Ein Besuch in Lemberg, der jüdischen Geisterstadt

Früher fühlten sich Lemberger als eine Art jüdische Aristokratie. Heute heißt die Stadt Lviv, ist Teil der Ukraine – und bietet nur mehr schwache Erinnerungen an ihre großartige Vergangenheit.
Ein Reisebericht von Martin Engelberg (Text und Fotos)

Gespenstisch, so kann man den Eindruck wohl am prägnantesten beschreiben, den ich anlässlich einer Reise nach Lemberg hatte, jener Stadt, aus der meine Mutter und ihre Familie stammte. Nur durch eine glückliche Fügung hatte sich diese Reise in die Vergangenheit überhaupt ergeben, als Mitglied einer offiziellen Delegation der Stadt Wien.

Völlig unvorbereitet traf mich diese Einladung – meine Mutter und meine Großeltern hatten nur sehr wenig über Lemberg gesprochen. Ich hatte keine Ahnung, wo meine Mutter gewohnt hatte, wo sie zur Schule gegangen war, wo das Geschäft meines Großvaters gewesen sein soll, oder in welchem Tempel sie gebetet hatten.

Vermittelt hatten sie mir jedoch seinerzeit das Gefühl, dass sie aus einer ganz besonderen Stadt stammten; sie fühlten sich als Lemberger wie eine Art jüdische Aristokratie. Für sie war diese Stadt der Olymp des Judentums gewesen: schon sehr weit weg von der Primitivität und Armut der zahllosen Schtetl im Umkreis, bewohnt von den größten rabbinischen Gelehrten dieser Zeit, ein Zentrum der Jeschiwot (Talmudschulen) und des Chassidismus, aber auch einer Reformbewegung, und bei all dem aber voll angebunden an die von Wien, der Hauptstadt der Monarchie, ausgehenden Aufbrüche in die Moderne, die Welt der Kunst, des Theaters, der Literatur und Musik.

Wie also einstellen auf eine Reise in ebendiese Stadt, die jetzt Teil der Ukraine ist, Lviv genannt wird und in der keiner dieser 120.000 Juden, die vor der Shoah ein Drittel der Bevölkerung stellten, mehr lebt. Eine Stadt, die 1939 aufgrund des Hitler- Stalin-Pakts zuerst von den Sowjets, 1941 dann von den Nazi-Deutschen und 1944 wieder von den Sowjets besetzt wurde und 1991 Teil der unabhängigen Ukraine wurde. Eine ehemalige Großstadt, deren gesamte Bevölkerung zu 95 Prozent ermordet oder vertrieben wurde und in der alle Straßen mehrere Male umbenannt wurden.

Der Flug nach Lemberg bringt eine erste Überraschung: Man gelangt von Wien nach Lemberg praktisch ebenso schnell wie nach Bregenz. Am Flughafen angekommen, hat man dann bereits die erste Zeitreise hinter sich: Auf dem Rollfeld stehen gerade einmal zwei Kleinflugzeuge, man kann zu Fuß zum „putzigen“ Flughafengebäude gehen. Da hat sich seit der Zeit der Sowjetunion der 1950er oder 60er Jahre nicht viel getan.

Auf der Fahrt vom Flughafen in die Innenstadt, geprägt auch vom regnerisch-kalten Wetter, vom Fahren über Straßen voller Schlaglöcher, schicke ich eine erste Nachricht nach Hause – sie lautet: „Quelle tristesse …“ Dabei wurde diese Stadt, in der jetzt cirka 800.000 Menschen leben, im Zweiten Weltkrieg relativ wenig zerstört. Die Altstadt mit dem Rynok-Platz rund um das Rathaus, mit seinen mehr als 40 Häusern, die in den unterschiedlichsten architektonischen Stilen – Renaissance, Barock, Klassizismus bis hin zu Art nouveau – errichtet wurden, hat sich die Aufnahme in die Weltkulturerbe-Liste der UNESCO sicher verdient. Aber noch ist Lemberg gekennzeichnet von der jahrzehntelangen Vernachlässigung.

Mit viel Mühe schaffe ich es, die Spuren des jüdischen Lembergs zu entdecken. Nur weil ich mich vorinformiert hatte und erst nach mehrmaligem, insistierendem Nachfragen schaffe ich es, die einzige noch aktive Synagoge, Beit Aharon V’Israel, in der Brativ-Mikhnovs’kykh-Straße zu entdecken. Sie wurde zwar schon 1924 erbaut und hat im Wesentlichen die Zerstörungswut der Nazis und dann der Sowjets überstanden, ist aber eher schmucklos und war zum Zeitpunkt ihrer Erbauung sicherlich keine der zentralen Synagogen dieser Stadt.

Dort amtet seit etwa 15 Jahren der aus den USA entsandte Rabbiner Shlomo Bald und betreut jene wenigen Juden (die Zahlen schwanken zwischen 1.000 und 5.000), die heute in Lemberg leben. Diese sind jedoch im Laufe der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg aus den unterschiedlichsten Gründen nach Lemberg gelangt und haben keinerlei Bezug zu Lemberg, wie es bis zur Shoah bestanden hat.

Geführt von Wassyl Rassewitsch, einem bestens deutsch sprechenden und über ein schier unglaublich umfassendes Wissen verfügenden jungen Historiker, eröffnen sich, fast geisterhaft, die Spuren des ehemaligen jüdischen Lembergs. Die wenig erkennbaren Überreste der berühmten Synagoge „Goldene Rose“ sind kaum ohne Hilfe zu finden. Deutlichstes Zeichen, dass an dieser Stelle ein bedeutendes jüdisches Gebäude gestanden hatte, sind da noch eher die allgegenwärtigen antisemitischen Schmierereien. Die umliegenden engen Gassen kann man sich mit Mühe als das alte Zentrum der jüdischen Gemeinde vorstellen. Zufällig entdeckt man am Türstock eines Hauses jene charakteristische Aushöhlung, in der sich die Mesusa (Schriftkapsel) befunden hatte.

Direkt hinter der Oper, sie sieht fast wie eine kleinere Kopie der Wiener Staatsoper aus, sind sodann – ebenso schleierhaft – die Spuren des (damals) moderneren jüdischen Viertels zu entdecken. Nach einem Marsch durch gewaltige Straßenbaustellen, die diesen Teil der Stadt derzeit prägen, erhebt sich plötzlich ein prächtiger, stolzer Bau in exotisch-maurischem Stil mit einer herrlichen, färbigen Kuppel, auf dem man plötzlich Davidsterne entdeckt, ebenso wie Abdrücke hebräischer Buchstaben, die jedoch entfernt wurden. Das war das einst berühmte jüdische Spital in der Yakov-Rappoport-Straße, welches noch heute als Krankenhaus in Verwendung ist.

Auf der Suche nach Spuren des großen jüdischen Friedhofs, auf dem berühmte Persönlichkeiten des jüdischen Lembergs begraben wurden, holt einen die Fassungslosigkeit wieder ein: Inmitten der Baustellen und Lehmgruben befindet sich ein riesiger, stark frequentierter Markt unter freiem Himmel und alles das spielt sich genau dort ab, wo sich ebendieser berühmte Friedhof befand und von dem es jetzt keinerlei Überreste, keinerlei Hinweise mehr gibt.

Ziemlich deprimiert eröffnet sich am Ende dann noch ein ganz kleiner, sehr berührender und vielsagender Blick in die Vergangenheit. Beim Umbau eines Geschäftslokals in der Sichovykh-Stril’tsiv- Straße wurde das ursprüngliche Portal freigelegt und jetzt sind dort die früheren Geschäftsaufschriften zu lesen: „Milchhalle“, „Käse“, „Saure Milch“ steht jetzt dort wieder geschrieben – wie es sich für damals gehörte, in Polnisch, Deutsch und Jiddisch.

 

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