Israel bietet den wenigen Reisenden ein anderes Bild als je zuvor. Die Ereignisse des 7. Oktober und das Schicksal der aus Israel entführten Männer, Frauen und Kinder haben das Land vollkommen verändert. Ein Situationsbericht anlässlich einer Solidaritätsreise.
Von Danielle Spera
Seit meiner Jugend bin ich sicher mehr als einhundert Mal in Israel gewesen. In verschiedensten Funktionen, als Journalistin, als Museumsexpertin, in Delegationen, aber auch ganz privat zu Besuchen unserer Familie oder auf Urlaub mit den Kindern. Meine letzten Besuche, für das Internationale Forum des Israel Museum, das im Juni in Jerusalem stattfand und als journalistische Begleitung einer Reise von deutschen und österreichischen Abgeordneten, haben mich in ein anderes Israel geführt, als ich es seit meiner Jugend kannte.
Auch wenn ich oft in Kriegssituationen oder angesichts von Terror und Selbstmordanschlägen im Land war, noch nie habe ich eine Stimmung erlebt, wie sie derzeit in Israel vorherrscht. Die Folgen des verheerenden Massakers vom 7. Oktober sind überall spürbar. Die relative Unbeschwertheit des Lebens, die in Israel trotz der ununterbrochenen Bedrohung seit der Staatsgründung immanent war, gibt es nicht mehr. Auch wenn am Wochenende die Israelis die Strände bevölkern, täuscht das nur marginal über die Krisenstimmung hinweg. Jede Familie ist von den Ereignissen des 7. Oktober betroffen, sei es, weil jemand aus dem erweiterten Verwandtenkreis von der Hamas ermordet oder als Geisel genommen wurde, oder ein Familienmitglied in der Armee und in Gaza oder an der Grenze zum Libanon eingesetzt ist. Denn Israel befindet sich derzeit in mehr als einem Zwei-frontenkrieg. Die Angriffe aus Gaza durch die Hamas sind zwar etwas weniger geworden, finden aber immer noch statt. Aus dem Norden wird Israel täglich von Raketen der Hisbollah beschossen und mehrmals pro Woche kommt es zu Terroranschlägen. Ganz abgesehen davon, dass sich noch immer mehr als 100 israelische Zivilisten, darunter Kleinkinder, in der Gewalt der Hamas in Gaza befinden.
In dieser Situation durfte ich im Juli eine Delegation von österreichischen und deutschen Abgeordneten begleiten. Der erste Abend war bereits gekennzeichnet durch die zermürbende Situation: Vor dem Tel Aviv Museum werden jeden Freitagabend Shabbatfeiern abgehalten. Der Platz vor dem Museum wurde in Hostage Square, Platz der Geiseln, umbenannt. Eine riesige Uhr zeigt an, wie lange sich die Geiseln bereits in den Fängen der Hamas befinden. Ein ausgedehnter gedeckter Tisch, mit leeren Sesseln, symbolisiert die Abwesenheit der Geiseln. Verwandte und Freunde finden sich zum gemeinsamen Gesang, Gebet und zum Reden über ihre Situation ein. Emotionale Momente, die in den nächsten Tagen noch übertroffen werden.
Nach einer kurzen Fahrt in den Süden entlang des Gaza Streifens trafen wir am Gelände des Nova Festivals ein. 405 junge Menschen wurden hier am 7. Oktober von den Hamas Terroristen gejagt, vergewaltigt, erschossen. Die Eltern der Opfer haben für jede und jeden Einzelnen Zeichen aufgestellt, mit Fotos, Gedichten, Objekten der Erinnerung. Der Ort gemahnt an einen außergewöhnlichen Friedhof. Die Fotos der hunderten lachenden jungen Menschen, die hier während einer Feier des Friedens und des Lebens brutal ermordet worden waren, rühren zu Tränen.
Wenig später treffen wir die aus Brasilien stammende Rafaela Treistmann, eine junge Frau, die das Nova Massaker überlebt hat. Sie lief gemeinsam mit ihrem Freund zu einem der zahlreichen Schutzräume, die in Israel an Bushaltestellen zum Schutz gegen Raketenangriffe eingerichtet sind. Diese winzigen Räume haben keine Türen, da man ausgeschlossen hatte, dass es je zu einem Überfall kommen könnte. Sie sind „nur“ für Raketenangriffe gebaut. In diesem, für etwa zehn Personen gedachten Raum, pressten sich etwa 40 junge Menschen zusammen. Die Terroristen der Hamas warfen Handgranaten und schossen hinein. Rafaela überlebte, weil sie als eine der ersten den Schutzraum erreicht hatte, und alle vor ihr erschossen wurden. Sie wurde nach etwa dreißig Stunden unter vielen Leichen geborgen, eine davon war die ihres Freundes. Ich fragte sie, ob sie jetzt nicht wieder nach Brasilien, in ihre Heimat zurückkehren wollte. „Unter keinen Umständen. So sicher wie hier fühle ich mich nirgends“, sagte sie, ohne zu zögern.
Im nahegelegenen Kibbutz Be’eri wird das Grauen des 7. Oktober nachvollziehbar. Die frühere Schönheit und Gepflegtheit dieses Dorfes ist durch die prachtvollen Pflanzen noch augenfällig. Dazwischen jedoch Ruinen von Häusern, zerschossen, verbrannt, teilweise eingestürzt. Eine junge Soldatin, deren gesamte Familie ermordet, bzw. als Geiseln entführt wurde, führt uns durch den Kibbutz. Einer ihrer Verwandten ist der nach Gaza gekidnappte israelisch-österreichische Staatsbürger Tal Shoham. Wir halten inne, als sie von den früheren Treffen ihrer großen Familie auf der Veranda erzählt, die nun nur noch ein Trümmerhaufen ist. Bei einem Treffen mit dem Sprecher der israelischen Armee, erfuhren wir über den Einsatz der Polizei, die wesentlich früher an den Orten der Massaker eingetroffen ist als die Armee. Micky Rosenfeld, Führungsoffizier einer Polizei-Eliteeinheit, war selbst bei den Einsätzen dabei und berichtete über die stundenlangen Kämpfe, vor allem um die von Hamas-Terroristen besetzte Polizeistation von Sderot.
Heikle juristische Fragen
Im Zentralkommando der israelischen Armee IDF erklärte ein Vertreter der Abteilung für internationales Recht, welche Herausforderung die Bekämpfung militärischer Ziele bei gleichzeitiger Minimierung ziviler Opfer darstelle. Jeder Verstoß gegen Einsatzregeln werde untersucht und nach rechtsstaatlichen Maßstäben geahndet. Bei dem Gespräch mit den Abgeordneten ging es auch darum, wie die Einhaltung völkerrechtlicher Standards in Militäroperationen praktisch umgesetzt wird. Hier wurden uns detaillierte Karten präsentiert, die nicht nur das weitläufige Tunnelsystem in Gaza illustrieren, sondern auch Einsatzzentralen der Hamas in zivilen Einrichtungen wie Schulen, Spitälern und Moscheen dokumentieren.
Seit dem 7. Oktober 2023 spielen juristische Fragen eine hervorgehobene Rolle in Debatten über den Hamas-Israel-Krieg. Besonders im Vordergrund steht die Einhaltung der verschiedenen kriegsrechtlichen Bestimmungen, aber auch die zugleich höchst fragwürdigen und hochkomplexen Verfahren gegen Israel und hochrangige Regierungsvertreter vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) und dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Hier ist weitere Aufklärung notwendig. Schließlich ist da auch noch die innenpolitische Diskussion in Israel um eine Justizreform. Auch wenn diese, im Schatten des Terrorangriffs vom 7. Oktober und des darauffolgenden Kriegs Israels gegen die Hamas derzeit abgeklungen ist, bleibt die Balance zwischen Parlament, Regierung und Oberstem Gericht fragil. Ein erneuter Versuch, Veränderungen in diesem Bereich herbeizuführen, kann schnell politische Fragen aufwerfen, die Israel erneut aufwühlen könnten.
Bei Treffen mit Abgeordneten der Opposition ging es vor allem um die politische Zukunft, für Israel, aber auch für den Gaza-Streifen. Netanjahu müsse zurücktreten, darüber waren sich alle oppositionellen Gesprächspartner einig, auch wenn viele von ihnen gleichzeitig annahmen, dass er bei der nächsten Wahl vermutlich wieder die meisten Stimmen erhalten würde.
Die problematische Rolle der UNRWA
Auch die Zukunft des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) stand im Fokus der Gespräche. Die Abgeordnete Sharren Haskel, Vorsitzende der UNRWA-Arbeitsgruppe des israelischen Parlaments (Knesset), sprach mit den Delegationsteilnehmern unter anderem über die Rolle der Organisation im Bildungssystem Gazas. Die enge Verquickung mit der Hamas sei nicht nur für Israel ein großes Problem (Ein ausführliches Interview mit Sherren Haskel finden Sie auf Seite 41 in diesem Heft). Auch für die lokale Bevölkerung sei dies der Fall, so die einhellige Meinung der Gesprächspartner. Deutschland und Österreich sollten als wichtige Geldgeber dringend auf Reformen drängen.
Vereinigte Arabische Emirate
Für die österreichischen Abgeordneten ging die Reise mit einem Besuch der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) weiter, einem seit ihrem Beitritt zu den Abraham Accords starken Partner Israels. Ein Höhepunkt des von Etienne Berthold, dem österreichischen Botschafter in den VAE großartig organisierten Besuches war das Treffen mit dem emiratischen Toleranzminister Sheikh Nahayan Mabarak Al Nahyan. Er warnte Österreich und alle europäischen Staaten, die radikalen Muslime nicht zu unterschätzen. Man solle aufmerksamer zuhören, was in den Moscheen gepredigt würde. In seinem Land würde Extremismus jedweder Art nicht geduldet. Beeindruckend war der Besuch des Abrahamic Family House. Eine Moschee, eine Kirche und eine Synagoge in gleicher Größe, beeindruckend gestaltet vom britisch-ghanesischen Architekten David Adjaye. Gottesdienste aller Religionen werden hier regelmäßig abgehalten. Ein Vorzeigeprojekt, das aufzeigt, wie eine gemeinsame friedliche Zukunft aller Religionen funktionieren könnte