Anatoli Akerman zählt zu den sensibelsten Clowns der Welt. Der Israeli mit ukrainischen Wurzeln ist seit vielen Jahren mit dem Circus-Theater Roncalli unterwegs. Fröhlich sein ist nicht nur sein Beruf, sondern seine Lebensmaxime.
VON ANDREA SCHURIAN, RENÉ WACHTEL (TEXT) UND OURIEL MORGENSZTERN (FOTOS)
Spompanadeln hier, Faxen da: Anatoli Akerman (52) ist ein äußerst lustiger Mann und sein Fahrrad, mit dem er am Rathausplatz einfährt, ein geradezu wundersames Turngerät. Dass Clowns im wirklichen Leben tieftraurige Menschen sind, sei schon eine gute Story, meint er, „aber wie immer ist es bei mir anders. Ich bevorzuge es, glücklich und fröhlich zu sein.“ Und schwupsdiwups hopst er gelenkig auf den Zaun, der das Zirkuszelt umgibt. Er wirft seinen schwarzen Hut in die Luft, rauft sich die karottenroten Haare, bis sie ihm völlig wirr vom Kopf stehen, schneidet Grimassen, rollt die Augen. Die umstehenden Leute lachen. Und freuen sich sichtlich darauf, was sie bald in höchster Perfektion sehen werden, nämlich atemberaubende Artistik im Allgemeinen und herzzerreißend komische Clownereien im Besonderen. Von Mitte September bis Anfang Oktober gastierte das Circus-Theater Roncalli am Wiener Rathausplatz, All for Art for All nennt Zirkusdirektor Bernhard Paul sein aktuelles Tourneeprogramm, eine ebenso artistische wie poetische Verneigung vor Kunst, Literatur, Musik und Mode, bei der Kunststile in sagenhafte Zirkusnummern verwandelt werden.
Wir sitzen in der Cafeteria in einem der historischen, prächtig restaurierten Wagen, die rund um das Zirkuszelt stehen. Die Nischen sind eng, der Kellner sieht aus wie ein Zirkusdirektor. Aus den Boxen klingt laute Beatles-Musik. Später wird uns Anatoli Akerman noch vor dem Publikumsansturm in das Zelt führen, vorbei am modernen, großen Wohnwagen von Bernhard Paul. Es ist ein stiller, ja intimer Moment. Eine Akrobatin macht Dehnübungen in der Manege, das Orchester spielt sich in halber Lautstärke ein, der Techniker überprüft die Lichtanlagen. Längst gibt es im Circus Roncalli keine Tiernummern mehr; und doch sind sie da, als Hologramme, die auf ein hauchdünnes, rund um den Schauplatz gespanntes Netz projiziert werden. Es ist eine eigene, poetische, verschworene Welt.
Seit 2014 ist Anatoli Akerman als Starclown neun Monate im Jahr mit der Roncalli-Artistenfamilie auf Tour, er hat seine eigene Solonummer entwickelt, außerdem ist er während der Vorstellungen auch als Pausenclown im Einsatz. Im Anschluss an Wien ging es zunächst nach Frankfurt, dann nach Bremen, und jetzt gerade macht der Zirkus in Osnabrück Station. Doch auch in seiner freien Zeit ist der Starclown ziemlich viel auf Achse, realisiert eigene Projekte, tritt auf Festivals auf, verzaubert das Publikum als irrwitziger Kuckuckshäusler in seinem eigenen Stück KuKu oder spielt in Hollywoodfilmen mit, wie zuletzt in Tim Burtons Dumbo-Remake.
„Früher habe ich das Herumfahren immer sehr genossen“, sagt er, „aber jetzt bin ich nach einer langen Saison mitunter müde. Das ständige Unterwegssein ist schön, aber anstrengend. Und manchmal geht es mir ganz ehrlich auch auf den Wecker.“ Das hängt wohl auch damit zusammen, dass in Graz seine Ehefrau und eine kleine Tochter auf ihn warten. Vielleicht kriegt er ja demnächst einen großen Wohnwagen, dann könnte seine Familie mit ihm reisen. „Wäre schön“, grinst er und reißt die Augen auf. Wie hat dieser Weltreisende, der 1970 in der damals noch zur UdSSR gehörigen Ukraine geboren wurde und in den 1990er Jahren mit seiner Familie nach Israel auswanderte, eigentlich just eine Grazerin kennen- und lieben gelernt? Zufällig natürlich. Der spätere Schwiegervater, ein steirischer Journalist, wollte Anatoli Akerman während seines Graz-Gastspiels interviewen, der Fotograf war krank, also sprang kurzfristig die Tochter ein – und verliebte sich langfristig in den Clown mit den melancholischen hellblauen Augen.
Zu Hause? Zu Hause fühlt er sich überall und nirgends: „Ich bin ein Reisender. In jedem Land, in dem ich von den typischen Einwohnern umgeben bin, fühle ich mich, egal wo, nicht zu Hause. Ich fühle mich nicht dazugehörig. So geht es mir in jedem Land. Manchmal würde ich gern dazugehören.“ Er macht eine kleine Pause. Grinst breit: „Beim Fußball genieße ich es, nirgends verwurzelt zu sein. Ich habe keinen bevorzugten Club, so kann ich nämlich immer zu den Gewinnern halten. Wenn ich in Deutschland Fußball schaue, halte ich zu Deutschland, in Frankreich zu den Franzosen und in Österreich zu den Österreichern.“
Schlägt ihm, dem Israeli mit russischen Wurzeln, eigentlich mitunter Antisemitismus entgegen? Die Antwort kommt rasch: „Nie. Zumindest jetzt in Europa nicht. Nur als Kind in der Ukraine, da schon. Ich lebe im Zirkus in einer internationalen, multireligiösen Community. Wir respektieren einander so, wie wir sind.“ Anders als sein Vater, der in Ashdod im Süden Israels lebt und täglich in die Synagoge geht, führt er kein jüdisches Leben, befolgt die jüdischen Regeln nicht. Freilich, wenn er seine Familie in Israel besucht, dann schon. „Oder wenn der Vater zu den hohen Festtagen anruft und sagt; ‚Anatoli, du musst beten!‘ Dann antworte ich immer: ‚Papa, ich setze die Kippa auf, beten wir gleich jetzt gemeinsam.‘ Aber in meinem Zirkusalltag hat Religiosität keinen Platz.“ Auch den Krieg in der Ukraine blendet er weitgehend aus: „Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll. Ich hasse den Krieg. Ich führe hier in Europa ein sicheres Leben. Aber was soll, was kann ich tun? Ich hasse Negativität.“
Sein Berufswunsch als Jugendlicher war Boxer, obwohl: „Ich wollte auch kein Boxer sein. Ich wusste lange eigentlich überhaupt nicht, was ich werden will. Also ging ich zum Boxen, aber die Eltern schickten mich dann auch zum Ballett, Stepptanz und zum Jazzunterricht.“ Schon früh stellte sich heraus: Der Bub hatte ein im wahrsten Sinn des Wortes komisches Talent. Inspirierend fand er jedenfalls seinen Onkel, einen Comedian. Er selbst aber wollte später ohne Worte lustig sein. „Ich mag den körperlichen Witz, das ist die internationale Sprache, die auf der ganzen Welt verstanden wird.“ Im Laufe seines mittlerweile mehr als dreißigjährigen Clownlebens entwickelte Akerman, der von der Kritik gern als sensibelster Clown der Welt tituliert wird, dann aber doch auch seine eigene dadaistisch-clowneske Brabbelsprache: „I speek Jibrish. Yamyamyam! Kapuuuut!!!! Or chachachacha!“ Er lacht: „Ich muss dieses Vokabular wirklich einmal niederschreiben.“
Eher zufällig gewann er, gerade erst aus der UdSSR emigriert, in den frühen 1990er Jahren den ersten Preis beim Clownfestival in Jaffa. Wobei er anfangs gar nicht so wirklich mitbekam, was man damit meinte, als man ihm mit den Worten „Kol ha kavod!“ („Gut gemacht!“) auf die Schultern klopfte. Sein jüngerer Bruder, der in Israel zur Schule ging und eigentlich besser Hebräisch verstand als Anatoli, ätzte, das sei sicherlich nichts Gutes gewesen. Tatsächlich aber war es der Beginn einer großen Weltkarriere, die ihn zunächst nach Europa, dann auch nach Übersee führte, wo er neun Jahre lang beim Cirque du Soleil mitwirkte und eigene Comedy-Charaktere für Las-Vegas-Shows entwickelte.
Lange Zeit habe er sich gefragt, ab wann man ein Clown ist: Wenn man genug Geld damit verdient? Oder wenn man es im Herzen fühlt? „Ich experimentierte einfach. Ich habe nie eine Clownschule besucht, ich habe es einfach gemacht.“ Drei Jahre arbeitete Anatoli auch in Japan, wo er auch eine elfjährige Tochter hat. „In Japan ist das Publikum viel zurückhaltender, die Menschen lachen nicht oder wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand. Überhaupt lachen Männer überall auf der Welt weniger als Frauen. Sie haben offensichtlich mehr Angst davor, lächerlich oder dumm zu wirken. Jeder versteckt sich, folgt Regeln, wie man sich benehmen muss. Es ist wirklich herausfordernd, aus beruflichen Gründen blöd zu sein!“
Er macht eine kleine Pause. „Irgendwann habe ich das entdeckt: Jeder lacht – wenn man mutig genug ist, dumm zu sein. Denn Dummheit erfordert Mut!“ Er lacht und springt auf. Denn jetzt muss er sich schminken und umziehen. Im Eingangsbereich warten bereits die Zuschauer, kaufen Zuckerwatte, Ansichtskarten, Souvenirs. Als wir das Zelt verlassen, beginnt die große Zirkusorgel zu spielen.