Ein Plädoyer für einen Diasporismus des 21. Jahrhunderts.
Mein erstes Mal Heimweh hatte ich in Israel. Einen Monat lang lebte ich schon in Holit, einem winzigen, privatisierten Kibbuz zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt, im Rahmen eines Auslandsjahres der zionistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair. So wie viele junge Jüdinnen und Juden, die in der Diaspora aufwuchsen, war meine jüdische Identität durch eine säkulare, zionistische Jugendgruppe gefestigt. Während ich unter der Woche ein nahezu komplett assimiliertes Leben an einem Wiener Gymnasium führte, traf ich mich jeden Samstag mit anderen jüdischen Jugendlichen, um unsere Verbundenheit zum Staat Israel auszudrücken. Jahrelang hatte ich gehört, Israel sei die Heimat aller Jüdinnen und Juden; Israel sei daher auch meine Heimat. Dementsprechend war es kein Wunder, dass ich nach der Matura meine Sachen packte und auf ein Jahr Abenteuer und Selbstverwirklichung in das gelobte Land aufbrach.
Der Kulturschock ließ nicht lange auf sich warten. Holit war kein sozialistisches Schlaraffenland, sondern ein abgesiedeltes Geisterdorf, das gelegentlichen Angriffen mit Qassam-Raketen aus dem Gazastreifen ausgesetzt war. Dieses Land war nicht die Heimat, die mir versprochen worden war. Ich verstand die Sprache nicht, vertrug das heiße Klima nicht und wollte mich erst recht nicht an die Omnipräsenz von Maschinengewehren gewöhnen. In den ersten Monaten meines Auslandsjahrs plagte mich starkes Heimweh. Während ich in der Wüste saß, sehnte mich nach den Wiener Kaffeehäusern, den Palais auf der Ringstraße und dem gut ausgebauten U-Bahn-Netz. War Wien nicht meine wahre Heimat?
Sehnen nach dem Exil
Heutzutage gibt es eigentlich nur zwei Themen, die säkulare Jüdinnen und Juden in Europa beschäftigen: das Bekenntnis zum Staat Israel und die Angst vor dem Antisemitismus in der Diaspora. Diese Themen sind für das moderne Judentum unentbehrlich, denn sie ermöglichen eine kulturelle Zusammengehörigkeit, die sich nicht durch religiösen Glauben auszeichnet. Allerdings sind sowohl der Zionismus als auch die Panikmache vor Antisemitismus eine Verneinung des jüdischen Lebens in der Diaspora. Anstatt sich zu unserer komplexen Geschichte und Gegenwart als eine sowohl verfolgte als auch integrierte Minderheit zu bekennen, sehnen wir uns nach dem Exil.
Wer den jüdischen Diskurs zum Leben in der Diaspora verfolgt, würde fast glauben, europäische Jüdinnen und Juden würden in Massen nach Israel emigrieren. Paradoxerweise ist das Gegenteil der Fall: Nicht Europa, sondern Israel hat mit jüdischer Emigration zu kämpfen, weil viele junge Israelis den sozialen Missständen und der zum Alltag gewordenen Kriegssituation entkommen wollen. Viele europäische Jüdinnen und Juden hingegen leben weiterhin ein bequemes, bürgerliches Leben in den Großstädten und denken nicht daran, es aufzugeben. Um heutzutage Zionist zu sein, reicht es, wenn man einmal im Jahr Smoothies am Strand in Tel Aviv schlürft und regelmäßig Artikel über den Bias der europäischen Medien in der Nahost-Berichterstattung teilt – man muss dazu die Diaspora nicht verlassen.
Doch wie wäre es einmal damit, nicht länger so zu tun, als sei das jüdische Leben in der Diaspora unvollkommen? Wie wäre es, stattdessen dazu zu stehen, dass wir hier ein gutes Leben führen, auch wenn es nicht immer einfach ist? Dafür gibt es ein schickes, neues Wort: Diasporismus. Ein Bekenntnis zum jüdischen Leben in der Diaspora statt eines chronischen Verlangens nach Exil.
Millennial Bundists
Das Wort Diasporismus ist zwar neu zusammengesetzt, aber die Idee geht weit zurück in die Tradition des jüdischen Arbeiterbunds, kurz „der Bund“ genannt. Als der Bund am Beginn des 20. Jahrhunderts in Osteuropa Fuß fasste, füllte er eine Lücke zwischen der Assimilation der jüdischen Kommunistinnen und Kommunisten sowie dem sozialistischen Zionismus. Einerseits waren Bundistinnen und Bundisten stolze Jüdinnen und Juden, die weiterhin Jiddisch sprachen, jiddische Kultur zelebrierten und Selbstverteidigungsgruppen gegen antisemitische Pogrome organisierten. Andererseits waren sie Antizionisten, die den Utopismus der Zionisten als eine Form des Eskapismus aus den sozialen Umständen ablehnten. Ein zentraler Begriff des Bundes war „doikayt“, was so viel bedeutet wie „Da-heit“. Doikayt war eine Antwort auf die „Dortheit“ des Zionismus, der Emigration als die einzige Lösung für jüdische Selbstbestimmung sah. „Dort wo wir leben, dort ist unser Land“, war auf einem Banner des Bundes gedruckt.
Das goldene Zeitalter des Bundes war schnell vorbei, sowohl wegen antikommunistischer und antisemitischer Repression als auch wegen interner ideologischer Konflikte. Doch heute erlebt die Tradition des Bundes gerade unter jungen Jüdinnen und Juden ein Revival. Genauso wie ich lehnen auch andere Jüdinnen und Juden jenes zionistische Narrativ ab, das uns ein Leben lang aufgetischt wurde – insbesondere in Zeiten von Besatzungspolitik und Netanjahus Ethno-Nationalismus.
Doch Opposition zum Mainstream allein reicht nicht, um einer jüdischen Identität Halt zu geben. Stattdessen begeistern wir uns für die Geschichte des jüdischen Radikalismus, lernen Ladino oder singen Lieder auf Jiddisch. Die „Millennial Bundists“, wie ich diese Strömung nenne, versuchen über das Bekenntnis zur Diaspora die jüdische Identität neu zu erfinden.
Seit meinem Auslandsjahr bin ich nicht mehr in Israel gewesen. Stattdessen verbrachte ich vor ein paar Jahren meinen jüdischen Kultururlaub in Marseille. Das Ganze nannte sich „Birthwrong“, eine satirische Anspielung auf Taglit Birthright, die kostenlose Zehn-Tages-Israelreise für jüdische Jugendliche aus aller Welt. Birthwrong war die diasporistische Alternative zu Sheldon Adelsons Propagandareise: ein selbst organisiertes dreitägiges Programm für rund 25 junge europäische Jüdinnen und Juden in Europa. Wir machten eine Stadtführung zur Geschichte des Widerstands im Zweiten Weltkrieg, besuchten einen sefardischen Shachrit-Gottesdienst, hielten einen Workshop über Antisemitismus für lokale Aktivistinnen und Aktivisten und demonstrierten am Marsch zum 1. Mai mit einem Banner mit der Aufschrift „Jewish Antifascist Action“. Das Jahr davor hatte Birthwrong schon in Andalusien stattgefunden, und im Jahr darauf organisierte ich es in Amsterdam. Israel hat eben kein Monopol auf jüdische Reiseziele.
Recht auf kulturelle Selbstbestimmung
Doch Diasporismus bedeutet nicht, dass man das Leben in der Diaspora schönreden muss. Die Jahrhunderte antisemitischer Verfolgung, die Geschichte des Holocaust sowie der zeitgenössische Antisemitismus gehören genauso dazu wie die jiddische Kultur und die „Welt von gestern“. Dass Antisemitismus nach all der Aufklärungsarbeit weiterhin besteht und sogar zunimmt, wie auch die neueste Studie der EU-Grundrechtsagentur FRA zeigt, ist für das jüdische Leben in Europa eine echte Bedrohung. Um zu einem Leben in der Diaspora zu stehen, muss Antisemitismus nicht verleugnet werden.
Allerdings müssen diese Entwicklungen auch nicht zu einer Ablehnung der Diaspora führen; vielmehr sind sie ein Appell, um für das Bestehen eines jüdischen Lebens in der Diaspora zu kämpfen. Wir als Jüdinnen und Juden haben ein Recht auf unsere kulturelle Selbstbestimmung in Europa, so wie andere Minderheiten dies auch haben. Zu diesem Diasporismus gehört nicht nur der Einsatz gegen Antisemitismus, sondern auch gegen andere Formen von Rassismus, die derzeit mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus in Europa einhergehen. Wir müssen einsehen, dass unsere Lebensqualität in der Diaspora auch davon abhängig ist, wie es anderen Minderheiten ergeht. Denn derselbe Ethnonationalismus, der sich heute gegen Muslime und Flüchtlinge richtet, ist auch ein Saatbeet für Antisemitismus. Dass Netanjahu sich gut mit antisemitischen Ethnonationalisten wie Viktor Orbán versteht und Alt-Right-Ideologen wie Steve Bannon Israels Politik bewundern, ist zwar paradox, aber nicht verwunderlich. Gerade in diesem politischen Klima ist es umso wichtiger, uns unserer historischen Verantwortung als jahrhundertelang verfolgte Minderheit zu stellen und für eine pluralistische, tolerante Diaspora zu kämpfen, in der jüdisches Leben florieren kann.
Wir Millennial Bundists sind eine Minderheit in einer Minderheit. Auch wenn diese Strömung einen Aufschwung erlebt, wird Birthwrong wahrscheinlich nie von Sheldon Adelson finanziert werden. Aber dennoch glaube ich an die politische Sprengkraft des jüdischen Lebens in der Diaspora. Schon allein unsere Existenz und unser stolzes Bekenntnis zu unserer Kultur ist ein Dorn im Auge der Rechtsextremisten und Antisemiten. Allerdings hier – und nicht dort.