Nachruf von Erwin Javor
Nirgends wird so viel gelogen wie in der Liebe und am Friedhof. Bei Wicki Rubins Begräbnis war es anders. Ich war noch nie bei einer Beerdigung, wo eine so vollkommen ehrliche Erschütterung und tiefe Trauer um einen Menschen fühlbar war. Niemandem, der Wicki kannte, ist sein Tod gleichgültig. Nie zuvor habe ich es erlebt, dass Reden, die am Friedhof gehalten wurden, um einen Toten zu beschreiben, untertrieben waren. Erst in den Geschichten, die wir uns nachher und bei der Schiwe über ihn erzählt haben, begann sich das Bild von Wicki, so wie er war, zu vervollständigen. Alle unsere Geschichten, und jeder hatte mehr als eine davon erlebt, hatten eines gemeinsam: Sie beschreiben einen Menschen, der, wie selbstverständlich, immer gegeben hat und anderen, egal wem, gut war, ohne etwas im Gegenzug zu erwarten oder gar zu verlangen. Stellvertretend möchte ich einige meiner Geschichten als kleinen Beitrag zu unser aller tiefen Trauer um einen großen Menschen erzählen.
Bis vor wenigen Jahren lebte ein Holocaust-Überlebender aus Galizien in Wien. Yitzhak Bigeleisen betätigte sich einst in Ostpolen als Manager eines jüdischen Gewichthebers namens Zishe Breitbart, des „Stärksten Manns der Welt“. Alles, was Bigeleisen letztlich hatte, war eine monatliche minimale Wiedergutmachung der Deutschen. Er war weder pensionsberechtigt noch sonst irgendwie sozial abgesichert. Wicki hat ihn „natürlich“ jahrelang kostenlos behandelt. Eines Tages, als Bigeleisen bereits bettlägerig war, kam Doktor Rubin zu ihm auf einen Hausbesuch und fand ihn mit einem akuten Leistenbruch vor. Wicki verständigte die Rettung, fuhr mit ihm ins Spital und musste erfahren, dass man Herrn Bigeleisen nicht aufnehmen konnte, da er weder einen Krankenschein noch eine Sozialversicherungsnummer hatte. Daraufhin öffnete Wicki ohne zu zögern und ohne Aufhebens seine Brieftasche, erlegte ein Akonto von damals 5.000 Schilling, überwies am nächsten Tag weitere 10.000 Schilling, und Bigeleisen bekam die notwendige Operation.
Ein anderes Mal war ich dabei, als ein Orthodoxer, der seit Jahren ebenfalls unversichert und von Zuwendungen seiner Gemeinde in Österreich gelebt hat, sich bei Wicki, der auch ihn aufopfernd behandelt und regelmäßig besucht hatte und dessen Honorar er natürlich nie bezahlen konnte, revanchieren wollte. Der Mann wollte in irgendeiner Form seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen und schenkte Wicki ein paar alte Schuhe. „Herr Doktor, bitte nehmen Sie die. Die sind wirklich fast neu, ich hab sie fast nicht getragen. Es ist höchste Qualität, das Beste, was ich hab. Bitte nehmen Sie sie!“ Wicki bedankte sich gerührt und herzlich, verpackte das Geschenk mit großem Respekt und nahm es mit in die Ordination. Wicki hat diese Schuhe bis zum Tod des Patienten behalten.
Egal wann und wo wir mit ihm zusammen waren, immer, immer hat irgendwann sein Telefon geläutet. (Am Schabbes hat es lautlos vibriert.) Es kam Wicki nicht in den Sinn, es abzudrehen. Ob das im Kino war, beim Essen, auf der Straße, in der Synagoge, bei Tag, in der Nacht, Wicki war immer für seine Patienten zu sprechen, egal ob es um eingebildete oder wirkliche Notfälle ging. Nach jüdischen Feiertagen, die mit üppigen und traditionell fetten Mahlzeiten begangen werden, hatte sein Telefon verstärkten Hochbetrieb. Einmal habe ich zugehört, als einer seiner „Notfall“patienten ihm seinen momentanen, absolut harmlosen Blutdruck durchgegeben hat. Dass er wegen so etwas ungehalten geworden wäre, hat es nicht gegeben.
In der jüdischen Tradition heißt es, dass ein Jude nur dann in einer Stadt wohnen darf, wenn dort mindestens zehn Gerechte leben. Nach Wickis Tod wird es in Wien nun sehr eng.