Die Wurzeln des neuen Antisemitismus

Von Pamphleten in der islamischen Welt über Ausschreitungen in Frankreich, Politikerreden der europäischen Rechten bis hin zu zynischen Debatten der intellektuellen Linken – wo endet sachliche Kritik an israelischer Politik und wird zu unverblümtem Antisemitismus? Zwei Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt beleuchten das Phänomen des neuen Antisemitismus.
Von Saskia Schwaiger

In jeder Diskussion kann man, mehr oder weniger offen, die Frage hören: Also, darf man jetzt Israel kritisieren oder ist das schon antisemitisch? Oder: Man wird doch noch sagen dürfen, dass …“ Man darf und man kann, findet Hans Rauscher, politischer Kolumnist bei der Tageszeitung „Der Standard“ und Autor des jüngst erschienenen Buches „Israel, Europa und der neue Antisemitismus“*. Allein auf das „Wie“ käme es an, auf die Untertöne und darauf, ob man über „die Juden“ rede oder über bestimmte politische Entscheidungen, ob es um eine echte Debatte gehe oder um augenzwinkernde Vergewisserung der eigenen Vorurteile. Die Frage, wann Kritik an Israel als antisemitisch zu bezeichnen ist und wann nicht, steht damit im Mittelpunkt von Rauschers Buch, das er im Untertitel als „Handbuch“ tituliert. Tatsächlich ist es auch der sehr direkte, praktische und grundsätzliche Zugang, der den Charme dieser Neuerscheinung ausmacht. Rauscher beginnt seinen Abriss des aktuellen Ist-Zustandes unter dem Stichwort „Das Monster ist zurückgekommen“. Dabei stützt er sich auf Ergebnisse von EU-Umfragen und zwei großen Konferenzen (das Seminar „Europe against Antisemitism – for a Union of Diversity“ unter Ex-Kommissionspräsident Romano Prodi bzw. die OSZE-Konferenz über Antisemitismus in Berlin). Anschließend folgt ein ausführliches Kapitel zu geschichtlichen und aktuellen Entwicklungen israelischer Politik, wobei auch hier verschiedene israelische bzw. jüdische Positionen zitiert werden, um Aspekte legitimer Kritik herauszustreichen. Zuletzt beschreibt er sehr detailliert den Umgang der österreichischen Politik und Medien mit dem Phänomen Israel und Antisemitismus, besonders jedoch den Umgang der Kronen Zeitung mit dem Thema. Rauscher gelingt mit dem Buch eine fundierte, Darstellung der aktuellen Debatte mit dem besonderen Fokus auf den Umgang der Österreicher mit dem Thema. Verdienstvoll ist dabei Rauschers Bemühen, in eine Debatte, die in der österreichischen Öffentlichkeit zwar nicht von offener Gewalt, aber von „reflexartigen Schuldzuweisungen, Verschwörungstheorien und wieder aufgekochten alten Vorurteilen“ geprägt ist, klare Denk- und Handlungsanleitungen einzubringen, die sich auch an den interessierten Laien richten. Aber auch debattengeeichte, aufrechte Antifaschisten können sich selbst die Frage stellen, die Rauscher an den Anfang seines Buches stellt: „Wie können wir eine Position im israelisch-palästinensischen Konflikt finden, die unsere Verantwortung für die Vergangenheit nicht verleugnet, die den arabisch-muslimischen Terrorismus klar benennt, die es aber auch erlaubt, die israelische Politik kritisch zu hinterfragen?“ Das Buch „Neuer Antisemitismus?“**, herausgegeben von Doron Rabinovici, Ulrich Speck und Natan Sznaider, nähert sich dem Thema wesentlich umfassender. Das Buch besteht aus insgesamt 17 europäischen Debattenbeiträgen unterschiedlicher Autoren, darunter des deutschen Soziologen Ulrich Beck, der Literaturwissenschaftlerin Judith Butler, des französischen Philosophen Alain Finkielkraut oder auch des streitbaren Politologen und Autors Daniel Jonah Goldhagen („Hitlers willige Vollstrecker“). Die Herangehensweise ist dabei völlig unterschiedlich. So sieht etwa Ulrich Beck in seinem Beitrag „Entgrenzung der Intifada“ den neuen Antisemitismus in engem Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt, der durch die Migration nach Europa hereingetragen wird. Auch Alain Finkielkraut beschreibt die Angst der französischen Juden vor den „neuen Dämonen“.

Anders als früher entstehe Antisemitismus nicht im Lager bornierter Kleinbürger, sondern in den Reihen des Protests gegen das Leiden der Palästinenser. Einige Beiträge beleuchten die Geschichte des Antisemitismus im Islam, etwa der des deutschen Politologen Matthias Küntzel. Unter dem Titel „Von Zeesen bis Beirut. Nationalsozialismus und Antisemitismus in der arabischen Welt“ rekonstruiert er die Auswirkungen der NS-Propaganda im arabischen Raum und die Rolle des Muftis von Jerusalem für die Nazis. Küntzels Fazit: Solange Antisemitismus von Muslimen geäußert werde, würde man ihn als Reflex auf den Nahostkonflikt verharmlosen oder überhaupt ignorieren. Tatsächlich trifft dieser Gesichtspunkt einen wesentlichen Punkt der aktuellen Antisemitismus-Debatte: Während in früheren Jahrzehnten die deutsche (österreichische) Antisemitismus-Debatte ausschließlich vor dem Hintergrund des Holocausts und seiner Bewältigung geführt wurde, ist nun der Bezugspunkt der Nahostkonflikt, seine Wahrnehmung, seine Deutung. „Die neue Gewaltsamkeit in Nahost, die auch nach Europa ausstrahlt, hat eine neue Radikalität in der weltweiten Wahrnehmung zur Folge, bis hin zur Infragestellung der Legitimität des Staates Israel“, so die Autoren. Zudem werde die intellektuelle und politische Debatte über den „neuen Antisemitismus“ dadurch erschwert, dass offener Antisemitismus seit dem Holocaust keine Legitimität mehr besitze. Denn die Kritiker des Begriffs „neuer Antisemitismus“ sehen in ihm nur ein politisches Instrument, Kritik an israelischer Politik zu unterbinden. Das Buch bezieht – schon allein aufgrund der sehr heterogenen Beiträge – daher nicht eindeutig Position, nimmt aber immer wieder Bezug auf andere Debattenbeiträge und gibt Querverweise. So entsteht ein sehr dichtes, umfassendes Bild der aktuellen Debatte um einen neuen Antisemitismus, die eindeutig als globale Diskussion verstanden wird.

 

* Hans Rauscher: Israel, Europa und der neue Antisemitismus“, erschienen im Molden Verlag, Wien 2004

** Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Natan Sznaider (Hg.): „Neuer Antisemitismus? – Eine globale Debatte“, erschienen im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004

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