Die Geschichte der B’nei Anusim (Hebräisch für „Kinder der Zwangsbekehrten“) ist eine Geschichte der Verfolgung, des Überlebens und der Wiederentdeckung. Über Jahrhunderte hinweg schienen ihre jüdischen Wurzeln in Vergessenheit geraten zu sein, verdeckt von der Zwangsassimilation und den Schrecken der Inquisition. Doch Spuren dieses Erbes sind bis heute erhalten geblieben.
Von Nathan Spasić
In den letzten Jahrzehnten entdecken immer mehr Menschen in Lateinamerika und in Mexiko ihre sephardischen Wurzeln und setzen sich mit ihrer jüdischen Herkunft auseinander. Einige entscheiden sich für eine religiöse Rückkehr, andere betrachten ihre Abstammung als historisches Erbe. Im Jahr 1492 ordnete das Alhambra-Edikt von König Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien die Vertreibung aller Juden aus Spanien an, sofern sie sich nicht zum Christentum bekehrten. Portugal folgte fünf Jahre später mit einem ähnlichen Erlass. Nach Schätzungen sollen bis zu 300.000 Jüdinnen und Juden zum Christentum übergetreten sein, um Vertreibung oder Schlimmeres zu vermeiden. Diese Zwangskonvertiten wurden als Conversos oder Marranen bekannt – offiziell Christen, doch viele hielten insgeheim an jüdischen Praktiken fest.
Mit der Expansion des spanischen Kolonialreichs suchten zahlreiche dieser Conversos in der Neuen Welt einen Neuanfang. In Mexiko aber setzte sich die Verfolgung fort. 1571 wurde das Tribunal der Heiligen Inquisition eingerichtet, um mutmaßliche Krypto-Juden aufzuspüren. Bis 1700 wurden mindestens 200 Menschen verurteilt. Manche wurden öffentlich verbrannt, andere enteignet oder inhaftiert. Der bloße Verdacht, den jüdischen Glauben heimlich zu praktizieren, konnte zur Todesstrafe führen. Viele Conversos legten das Judentum schließlich ab, um ihr Leben zu retten. Doch nicht alle Spuren ließen sich auslöschen. In bestimmten Familien hielten sich über Generationen hinweg Bräuche, deren Ursprung kaum noch bekannt war. Manche zündeten freitags heimlich Kerzen an, bedeckten ihren Kopf beim Gebet oder vermieden Schweinefleisch. In entlegenen Regionen Mexikos und Lateinamerikas existierten Begräbnisriten, die an jüdische Traditionen erinnerten, wie das Reinigen des Leichnams vor der Bestattung oder das Begraben vor Sonnenuntergang. In manchen Familien wurde auch überliefert, dass die Vorfahren aus Spanien oder Portugal geflohen seien, oft mit bewusster Verschleierung der jüdischen Herkunft.
Erst in jüngerer Zeit lieferten Studien wissenschaftliche Hinweise darauf, was Historiker bereits vermuteten: Ein signifikanter Teil der mexikanischen Bevölkerung hat sephardisch-jüdische Wurzeln. Eine Studie der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM) ergab, dass etwa 10% der Bevölkerung genetische Marker tragen, die mit sephardischen Juden in Verbindung stehen. Doch jüdische Identität ist weit mehr als eine Frage der Genetik. Für viele B’nei Anusim beginnt die Reise mit der Erkenntnis, dass scheinbar gewöhnliche Familientraditionen Teil eines größeren kulturellen Erbes sind.
Die religiöse Rückkehr gestaltet sich jedoch schwierig. Die meisten jüdischen Gemeinden verlangen eine formelle Konversion, um B’nei Anusim als vollwertige Mitglieder aufzunehmen. Das orthodoxe Judentum folgt der Halacha, wonach die jüdische Abstammung über die mütterliche Linie vererbt wird – ein Nachweis, der nach Jahrhunderten der Assimilation oft nicht mehr zu erbringen ist. In Israel gilt das Rückkehrgesetz nicht automatisch für B’nei Anusim, es sei denn, sie haben eine vollständige rabbinische Konversion durchlaufen. Diese Hürden haben dazu geführt, dass sich viele derjenigen, die ihre jüdischen Wurzeln entdecken, zwischen religiöser Rückkehr und kultureller Identifikation bewegen.
Trotz aller Herausforderungen wächst das Interesse an den eigenen Wurzeln. Seit den 1990er Jahren sind in Mexiko mehrere jüdische Gemeinden entstanden, die sich aus B’nei Anusim zusammensetzen. Die bekannteste befindet sich in Venta Prieta im Bundesstaat Hidalgo. Dort praktizieren einige Familien bereits seit Generationen jüdische Bräuche und haben eine eigene Synagoge errichtet. Die Unterstützung von Organisationen wie Shavei Israel hat es ermöglicht, dass sich diese Gemeinschaften vernetzen und mehr über ihre Herkunft erfahren können. Eine weitere Entwicklung, die die Identitätssuche vieler B’nei Anusim beeinflusst hat, ist das 2015 von Spanien und Portugal verabschiedete Gesetz, das Nachfahren sephardischer Juden eine Rückkehr in Form der Staatsbürgerschaft ermöglicht. Zehntausende Menschen aus Lateinamerika haben entsprechende Anträge gestellt. Für viele ist dies eine offizielle Bestätigung ihrer Herkunft, auch wenn nicht alle Antragsteller planen, nach Europa zu ziehen. Die Rückkehrbewegung der B’nei Anusim ist jedoch nicht unumstritten. In einigen etablierten jüdischen Gemeinden gibt es Vorbehalte, insbesondere in aschkenasisch geprägten Kreisen, die eine Verwässerung der jüdischen Identität befürchten. Andere Skeptiker vermuten, dass einige Menschen genealogische Entdeckungen eher als persönliche Bereicherung denn als religiöses Bekenntnis nutzen. Dennoch wächst die Zahl derjenigen, die sich ernsthaft mit ihrem jüdischen Erbe auseinandersetzen und bereit sind, den langen Weg einer formellen Rückkehr zu gehen. Heute steht die Gemeinschaft der B’nei Anusim an einem Wendepunkt. Trotz Jahrhunderten der Verfolgung und Assimilation suchen viele ihrer Nachfahren aktiv nach Wegen, ihr jüdisches Erbe wiederzuentdecken. Ihre Geschichte ist ein lebendiges Zeugnis für kulturelle Resilienz und die Kraft von Erinnerung und Tradition.