Christian Ultsch, stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung „Die Presse“, über das israelische Dilemma in der Öffentlichkeit und soziale Medien als Emotionalisierungsmaschinen.
Von Danielle Spera
NU: Woran liegt es, dass das Massaker der Hamas auch in Österreich so schnell aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden ist?
Christian Ultsch: Der barbarische Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober hat zunächst auch außerhalb Israels eine starke Erschütterung ausgelöst, auch in Österreich. Doch bereits nach zwei Wochen hat sich die Stimmung gedreht. Beigetragen dazu hat unter anderem die Bemerkung von UN-Generalsekretär António Guterres, dass der Terrorangriff auf Israel nicht im luftleeren Raum stattgefunden habe. Nichts auf der Welt findet im luftleeren Raum statt. Ich frage mich bis heute, warum Guterres das überhaupt gesagt hat. Das hatte den Beigeschmack des Erklärend-Legitimatorischen. Die Schlächterei der Hamas ist jedoch durch nichts zu rechtfertigen. Inzwischen redet man fast nur noch vom Fehlverhalten Israels und nicht mehr über den Zivilisationsbruch der Hamas. Ab einem gewissen Zeitpunkt hat man nur noch über die Kriegsführung Israels gesprochen, an der man übrigens auch einiges aussetzen kann. Vor allem wenn man an das Resultat denkt.
Das Resultat lässt sich noch nicht abschätzen.
Der Krieg dauert nun schon acht Monate, der Blutzoll ist außerordentlich hoch. Doch seine Kriegsziele hat Israel nicht einmal annähernd erreicht. Die Hamas ist nach wie vor nicht ausgeschaltet, und immer noch befinden sich Dutzende Geiseln in der Gewalt der Terrororganisation. Da muss man sich schon noch fragen, was bei dieser Kriegsführung schief läuft. Es gibt viel zu viele zivile Opfer in diesem Krieg. Das kann und soll man nicht ausblenden. Ich beobachte schon seit Längerem eine wachsende Unfähigkeit, Empathie für das menschliche Leid der jeweils anderen Seite zu empfinden. Nach dem 7. Oktober kamen von palästinensischer Seite praktisch keine Regungen des Mitgefühls. Umgekehrt ist die Berichterstattung in Israel bis heute sehr stark auf die Opfer der Hamas und die Geiseln konzentriert, während das Schicksal der Bevölkerung im Gazastreifen unterbeleuchtet bleibt. Das ist bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar, weil die Ereignisse so dramatisch und traumatisch waren. Doch es gibt eben nicht nur Leid auf der eigenen, sondern auch auf der anderen Seite.
Israel kämpft nicht gegen eine Armee, sondern gegen eine höchst aufgerüstete Terrororganisation, die über die modernsten Waffen verfügt, die sich in einem weitverzweigten Tunnelsystem versteckt und die gesamte Bevölkerung als Schutzschild verwendet. Wie kann man das überhaupt mit einem anderen Krieg vergleichen?
Die Hamas nimmt gleichsam die gesamte Bevölkerung im Gazastreifen als Geisel und versteckt sich hinter Zivilisten. Jeder andere Staat der Welt hätte auf den Terrorangriff der Hamas militärisch reagiert. Dennoch kann Israel nicht jegliche Verantwortung für die Folgen seiner Kriegsführung abwälzen. Es bleibt dem Völkerrecht verpflichtet. Die Hamas wollte Israel in genau dieses Dilemma stürzen. Sie fragen mich als Journalisten. Es ist grundsätzlich äußerst schwierig, über diesen Krieg zu berichten, denn Journalisten kommen nicht in den Gazastreifen hinein. Es gibt ein paar Journalisten, die in die israelische Armee eingebettet sind. Gleichzeitig versucht die Hamas mit Bildern aus Gaza das internationale Meinungsbild zu beeinflussen. Eine unabhängige Berichterstattung, die vor Ort verifiziert oder falsifiziert, ist unter den jetzigen Umständen kaum möglich. Leider kommt es immer wieder vor, dass die Hamas als Nachrichtenquelle wie jede andere verwendet wird. Das kann man natürlich nicht machen. Man muss abwägen, woher bestimmte Informationen stammen, auch was die Opferbilanzen anlangt.
Es wird heute auch kaum erwähnt, dass Israel 2005 aus dem Gazastreifen abgezogen ist und dadurch gehofft hat, dass man zu einem Friedensschluss mit den Palästinensern kommt. Die Folge war, genau umkehrt, kein Frieden, sondern Israel wurde von dort aus permanent angegriffen.
Wer sich länger mit dem Konflikt befasst, weiß, dass die Hamas einer der Totengräber des Friedensprozesses ist. Mehrfach ist es dieser Organisation gelungen, den Friedensprozess aus dem Gleis zu werfen und durch Raketenangriffe und Terroranschläge immer wieder Eskalationen heraufzubeschwören. Das ist natürlich auch Teil des Kalküls einer Terrororganisation. Terror wird verübt, um eine gewisse Reaktion auszulösen. Und es mag jetzt vielleicht zynisch klingen, aber man kann natürlich alles, was seit dem 7. Oktober passiert ist, auch so interpretieren, dass es für die Hamas ganz gut gelaufen ist.
Das ist ja das Erschreckende.
Israel ist in der Weltöffentlichkeit stark in die Defensive gelangt. Das hat mit der Kriegsführung zu tun und zum Teil auch mit der Zusammensetzung der nicht sonderlich sympathischen Regierung in Jerusalem, in der auch Rechtsextremisten Platz gefunden haben. Israel hat sicher auch den einen oder anderen taktischen Fehler begangen. Es wäre vermutlich nützlich gewesen, einen entschlosseneren Versuch zu starten, eine diplomatische Allianz gegen die Hamas zu schmieden. Einen solchen Schulterschluss gab es ja auch gegen den sogenannten Islamischen Staat, den IS. Es müsste eigentlich eine breite Front gegen die radikal-islamistische Hamas geben, auch von arabischer Seite.
Sie sagten, dass die Hamas den Propagandakrieg gewonnen hätte. Wie kann man die Hamas als harmlos ansehen? Da spielen doch auch die Medien eine Rolle?
Ja, natürlich. Aber die klassischen Medien dominieren schon lange nicht mehr. Wir sehen eine total fragmentierte Medienlandschaft, die stark geprägt ist durch soziale Medien und Echokammern. Jeder nimmt sich das heraus, was er gerne hören will. Da werden einem hochkomplexen Konflikt zum Teil sehr vereinfachte Erklärungsmuster übergestülpt. Wir sehen das ja auch bei den propalästinensischen Protesten in den USA: Da wird mit postkolonialen Theorien argumentiert, Israel vereinfacht als Apartheidstaat angeprangert, um Emotionen zu schüren. Dieser hohe Grad an Emotionalisierung ist ein Kennzeichen der derzeitigen medialen Landschaft. Soziale Medien sind Emotionalisierungsmaschinen. Das Ergebnis kann man jetzt sehen: Hier verschiebt sich etwas, auch in den USA. Es wächst eine neue Generation heran, die eindeutig weniger israelfreundlich ist als die vorangegangene. Weltweit brechen sich Antizionismus und Antisemitismus auf eine Weise Bahn, die viele nicht mehr für möglich gehalten hätten.
Diese Emotionalisierung ist gesteuert.
Ja, da muss man realistisch sein. Israel ist mit seinen neun Millionen Einwohnern ein kleines Land und steht fast zwei Milliarden Menschen der islamischen Welt gegenüber, die ein ganz anderes Bild von diesem Konflikt entwirft, insbesondere im globalen Süden. Für Israel ist das natürlich sehr bedrohlich. Es muss sich Gegenstrategien einfallen lassen.
Kolonialmacht und Apartheidstaat, das sind so haarsträubende Argumente. Das kann man leicht vom Tisch wischen.
Auch der Begriff des Genozids wird extrem polemisch eingesetzt. Selbst wenn man sich nur oberflächlich mit der Definition dieses Begriffs befasst, wird man schnell feststellen, dass man ihn nicht auf das Vorgehen Israels im Gazastreifen anwenden kann. Hinter einem Völkermord muss die Absicht stehen, eine ethnische Gruppe auszulöschen. Das ist ein grotesk überzogener Vorwurf. Das Gleiche trifft auf den Begriff Apartheid zu, der ein krasses Modell der Diskriminierung von Schwarzen in Südafrika ziemlich genau umrissen hat. Eine derartige Diskriminierung gibt es in Israel nicht. Bei allen Problemen im Umgang mit der arabischen Minderheit ist es nicht zulässig, diesen plakativen polemischen Begriff zu verwenden. Trotzdem wird es gemacht.
Niemand macht sich die Arbeit, das zu hinterfragen, und dann rufen die Studenten auch noch: „Wir sind Hamas“.
Die Dummheit mancher Studenten ist erschreckend. Bei den Protesten treten auch ein beunruhigender Mangel an Bildung und eine erstaunliche Unfähigkeit zur Differenzierung zutage. Die Welt ist nicht schwarz und weiß wie das Palästinensertuch. Das Absurde ist, dass auch Gruppen mit der Hamas sympathisieren, die keinen Tag im Herrschaftsgebiet der frauenfeindlichen islamistischen Hamas überleben könnten. Und trotzdem lassen sie sich instrumentalisieren. Was die Hamas anbelangt, muss man ganz klar darlegen, woher diese Organisation kommt, was in ihrer Charta steht und was sie getan hat. Auch am 7. Oktober. Man darf nie aufhören zu argumentieren.
Christian Ultsch ist langjähriger Leiter des Außenpolitik-Ressorts der Tagezeitung „Die Presse“ und stellvertretender Chefredakteur. 2021 wurde er mit dem Arik-Brauer-Publizistikpreis ausgezeichnet.