Eine kleine Gruppe von Juden will eine neue Kultusgemeinde gründen. Wer sind sie und was stört sie an der IKG?
Von Ruth Eisenreich (Text) und Heribert Corn (Fotos)
Das Gesetz ist in Frakturschrift gedruckt, es trägt die Unterschrift von Kaiser Franz Joseph, veröffentlicht wurde es im „Reichsgesetzblatt für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder“. Am 21. März 1890 wurde das „Gesetz betreffend die Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgesellschaft“, besser bekannt als Israelitengesetz, beschlossen und ist seither beinahe unverändert in Kraft. Bald wird sich das ändern: Im Mai wurde eine Gesetzesnovelle abgesegnet, die dem österreichischen Judentum einen moderneren Rechtsstatus geben soll. Doch eine Gruppe von Reformjuden ist mit dem neuen Gesetz nicht einverstanden. Es sei „unjüdisch“, ein „religionspolitischer Rückschritt“, es „verkirchliche“ die jüdische Gemeinde, sagt der Verein Or Chadasch („Neues Licht“). Er hat einen zusätzlichen Passus ins Gesetz hineinreklamiert – und die Gründung einer eigenen Kultusgemeinde beantragt. Darüber wiederum ist die IKG, die sich als Vertretung aller Juden sieht, gar nicht glücklich.
Worum geht es in dem Konflikt? Das Verhältnis zwischen der IKG und Or Chadasch ist schon seit Gründung des Vereins im Jahr 1990 angespannt. Auch wenn es sich inzwischen deutlich gebessert hat – so stellt die IKG den Reformjuden das Gebäude, in dem sich deren Tempel befindet, zur Verfügung –, fühlt sich Or Chadasch immer noch eher geduldet als anerkannt.
Im Tempel von Or Chadasch nahe dem Wiener Praterstern findet man keine bärtigen Männer mit Schläfenlocken. Die meisten Männer kommen in Jeans, karierten Hemden und Sportschuhen zum Freitagabend-Gottesdienst; eine Frau im mittleren Alter trägt ein Hippiehemd, ein junges Mädchen pinkfarbene Jeans.
Als weniger religiös, als „Judentum light“, sehen sich die Reformjuden allerdings nicht. Der große Unterschied zur Orthodoxie liegt im Zugang zur Thora: Diese gilt den Reformjuden nicht als Wort für Wort von Gott festgelegter Text, dessen Vorschriften man für immer im exakten Wortsinn interpretieren müsse. Vielmehr sei die Thora aus verschiedenen Quellen zusammengesetzt, die religiöse Praxis habe sich im Laufe der Jahrtausende weiterentwickelt und dürfe auch heute den veränderten Lebensverhältnissen angepasst werden.
In der religiösen Praxis lassen sich die meisten Konflikte zwischen orthodoxem und progressivem Judentum auf ein Thema herunterbrechen: Frauen. Weil das Reformjudentum weibliche Rabbiner akzeptiert und diese auch in seinen Rabbinatsgerichten sitzen, akzeptieren orthodoxe Juden deren Entscheidungen nicht. Konvertiert etwa ein Nichtjude nach dem Reformritus zum Judentum, gilt er der Orthodoxie nicht als jüdisch. Das hat weitreichende Konsequenzen: Handelt es sich um eine Frau, gelten auch ihre Kinder den Orthodoxen nicht als Juden; in Wien kann ein nach Reformritus Übergetretener nicht am jüdischen Friedhof begraben werden. Und, so erklärt Or- Chadasch-Vizepräsidentin Giuliana Schnitzler den Knackpunkt des Streits, er werde vom Staat nicht als Jude anerkannt.
Dabei sind Or Chadasch und der Mainstream der IKG, betrachtet man das gesamte Spektrum des Judentums, gar nicht so weit voneinander entfernt: Or Chadasch befindet sich am konservativeren Rand des Reformjudentums, IKGOberrabbiner Paul Chaim Eisenberg wiederum bezeichnet sich selbst als „modern-orthodox“ und ist vielen Ultraorthodoxen zu liberal.
Auch in Sachen Kultusgemeinde sind sich IKG und Or Chadasch einig – in der Theorie. Beide Seiten beteuern, weiterhin eine Einheitsgemeinde anzustreben, wie sie im alten Israelitengesetz verankert war: In einem bestimmten Gebiet durfte nur eine einzige Kultusgemeinde existieren, die alle dort lebenden Juden vertreten sollte.
Das neue Gesetz enthält keine solche Bestimmung, sieht aber als Dachverband aller Kultusgemeinden eine „Israelitische Religionsgesellschaft“ vor. Das sei eine hierarchische Struktur, die dem Judentum fremd sei, sagen die Vertreter von Or Chadasch. Sie fürchten, dass die Religionsgesellschaft nur die orthodoxen Strömungen vertreten und die Gründung einer progressiven Kultusgemeinde verhindern werde. Auf Drängen der Reformjuden wurde dem Gesetz ein Passus hinzugefügt, demzufolge der Dachverband für die „angemessene Vertretung aller innerhalb der Religionsgesellschaft bestehenden Traditionen“ sorgen muss.
Die Vertreter von Or Chadasch haben trotzdem die Gründung einer eigenen „Jüdischen Liberalen Kultusgemeinde“ beantragt. Denn solange das neue Gesetz nicht in Kraft ist, ist für die Zulassung einer solchen nicht die Religionsgesellschaft, sondern das Kulturministerium zuständig. „Bevor sich die Türe schließt, wollen wir sicher sein, dass Reformgemeinden eine Zukunft haben“, erklärte Giuliana Schnitzler im April.
Wenige Wochen später lehnte das Kulturministerium den Antrag ab. Die Begründung: Laut österreichischer Verfassung könne keine Religionsgesellschaft gezwungen werden, Personen aufzunehmen, „die Richtungen, Strömungen, Traditionen oder Ähnlichem anhängen, die sie mit ihrer Lehre als nicht vereinbar betrachtet“. Da half es nichts, dass Or Chadasch über hundert Unterstützungserklärungen gesammelt hatte, dass Vertreter reformjüdischer Organisationen von Frankreich über die USA bis nach Südafrika Briefe an das Ministerium geschrieben haben.
Weltweit stellt das Reformjudentum eine bedeutende Strömung des Judentums dar, in den USA soll es gar die größte sein. Auch in Deutschland ist es populär: Im Zentralrat der Juden sind progressive Gemeinden vertreten, zwei Rabbinerkonferenzen – eine orthodoxe und eine allgemeine – existieren hier nebeneinander.
Eine solche Struktur würde man sich bei Or Chadasch auch für Österreich wünschen. Doch im Gegensatz zu Deutschland, wo das Reformjudentum im 19. Jahrhundert entstanden ist, gibt es im österreichischen Judentum keine progressive Tradition. Als nach der Schoah eine Rückbesinnung auf die Religion einsetzte, hatte man daher nur die orthodoxe Tradition als Anknüpfungspunkt. Der Zuzug von orthodoxen Juden aus Osteuropa und die liberale Ausrichtung des IKG-Mainstreams taten das Ihrige dazu, dass das Reformjudentum hierzulande nie richtig Fuß fassen konnte: Gut 8000 Menschen haben sich bei der Volkszählung 2001 zum Judentum bekannt, nur etwa 120 sind Mitglieder bei Or Chadasch.
Sie wollen nun weiterhin um mehr Anerkennung innerhalb der IKG kämpfen und parallel dazu einen neuen Antrag auf Gründung einer Kultusgemeinde stellen; scheitern sie, wollen sie klagen und wenn nötig bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen.
Oberrabbiner Eisenberg steckt nun in einem Dilemma: Er will die Einheitsgemeinde erhalten und eine Abspaltung der Reformjuden verhindern, wagt aber nicht, Or Chadasch weitere Zugeständnisse zu machen. Das israelische Oberrabbinat könnte dann der gesamten Wiener IKG die Anerkennung entziehen, fürchtet er. Auch vonseiten der Wiener Ultraorthodoxen steht Eisenberg wohl unter Druck: Käme er den Reformjuden entgegen, würden womöglich sie mit Abspaltung drohen.