Die verdrängte Geschichte des Ernst-Happel-Stadions

Von David Forster

Fußballmatches, Musikkonzerte, Sportevents – dafür ist das Wiener Ernst-Happel-Stadion (Praterstadion) bekannt. Dass hier einst über tausend Juden interniert, anthropologisch vermessen und dann ins KZ Buchenwald transportiert wurden, wissen die wenigsten. Wenige Tage nach dem Angriff der Deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 verfügte Reinhard Heydrich, der Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, die Verhaftung aller männlichen Juden mit polnischer Herkunft (d. h. Personen mit polnischer Staatszugehörigkeit oder sog. Staatenlose, die in Polen ihr Heimatrecht besaßen).

Vom 9. bis zum 11. September wurden im Zuge einer Verhaftungswelle in Wien über tausend jüdische Männer überfallsartig festgenommen, darunter Menschen aus den Alteneinrichtungen der Israelitischen Kultusgemeinde und Jugendliche. Die Polizei brachte die Gefangenen nach einigen Tagen ins Praterstadion, wahrscheinlich wegen der Überfüllung der Wiener Gefängnisse. Das zwischen 1928 und 1931 erbaute Praterstadion war mit einem Fassungsvermögen von 60.000 ZuschauerInnen eine der modernsten Sportarenen der 30er Jahre. Die jüdischen Gefangenen wurden in den Gängen von Sektor B unterhalb der Tribünen inhaftiert. Einmal am Tag erhielten die Internierten eine Suppe und ein Stück Brot, nächtigen mussten sie auf Strohlagern. Die Haftbedingungen im Stadion – einschließlich der Behandlung der Gefangenen durch ihre Bewacher von der Wiener Schutzpolizei – lassen sich selbstredend nicht mit dem Grauen der Konzentrationslager vergleichen, aber die auf die Verhaftungswelle folgende Internierung der Juden im Prater bildete den Auftakt für die Deportation und Vernichtung. Die Häftlinge wurden über ihr weiteres Schicksal im Unklaren gelassen und waren von der Außenwelt abgeschlossen. Vor den Toren des Stadions gingen Verwandte der Gefangenen auf und ab und hielten nach ihren Lieben Ausschau.

Am Morgen des 25. September begann eine anthropologische Kommission unter der Leitung von Dr. Josef Wastl, dem Kustos der anthropologischen Abteilung im Naturhistorischen Museum in Wien, mit „rassekundlichen“ Untersuchungen an den inhaftierten Juden. Wastl, NSDAP-Mitglied seit 1932, zeichnete bereits für eine im Mai 1939 eröffnete Ausstellung über das „Erscheinungsbild der Juden“ verantwortlich und suchte nun nach neuem „Material“ für seine Forschungen über „Untermenschen“. In den folgenden Tagen führte die Kommission Vermessungen an 440 Häftlingen im Stadion durch, dabei wurden z. B. die Kopflänge und -breite sowie die Hand- und Fußlänge der inhaftierten Juden festgestellt, Fotos und Gipsmasken angefertigt und Haarproben entnommen.

Am 30. September wurden die Internierten direkt vom Stadion zum Westbahnhof gebracht. Einige wenige Männer wurden dort entlassen, den Großteil der Häftlinge – wahrscheinlich insgesamt 1.038 Menschen – pferchte die SS unter Prügeln in Viehwaggons. Die Männer wurden in das KZ Buchenwald deportiert. In den folgenden Monaten wurden hunderte der aus dem Wiener Stadion deportierten Juden im KZ Buchenwald ermordet – im Sommer 1940 lebte nur noch rund ein Drittel dieser Menschen. Der Umgang mit den Opfern und Tätern der „Stadionaktion“ nach Kriegsende ist eine typische Geschichte der Zweiten Republik. Von den 1.038 aus dem Wiener Stadion ins KZ Buchenwald deportierten Menschen wurden 44 entlassen, nur 27 erlebten im Jahr 1945 die Befreiung.

Zu den wenigen Überlebenden zählten auch Gustav und Fritz Kleinmann, der in den KZs Buchenwald, Auschwitz und Mauthausen inhaftiert gewesen war. Im Jahr 1953 beantragte Fritz Kleinmann eine Haftentschädigung nach dem Opferfürsorgegesetz aus 1947. Die Haftzeit im Stadion wurde ihm damals von der zuständigen Behörde nicht angerechnet, erst im Jahre 1988 erhielt er auch für die drei Wochen Haft im September 1939 die gesetzlich vorgesehene Summe von 860 Schilling. Die Mutter und die Schwester von Fritz Kleinmann waren ermordet worden, eine weitere Schwester konnte sich ebenso wie sein Bruder ins Ausland retten.

Dr. Wastl hingegen wurde 1945 von seinem Dienstposten enthoben und 1948 in den Ruhestand versetzt. Im Jahr 1949 wurde er zum gerichtlichen Sachverständigen für menschliche Erbbiologie bestellt und fertigte bis zu seinem Tod Vaterschaftsgutachten an. 1956 ordnete Wastl die „Normaufnahmen“ der im Stadion internierten Juden in die Fotosammlung des Naturhistorischen Museums ein. Das Schweigen über die Vorgänge im Praterstadion dauerte bis Ende der 90er Jahre an.

Erst ein Generationswechsel in der Abteilung für Archäologische Biologie und Anthropologie des Naturhistorischen Museums leitete einen Umschwung im Umgang mit diesem Teil der NS-Geschichte ein, die Aufarbeitung der Vermessungen an Juden wurde begonnen.

Auf meine Initiative wurde am 13. November dieses Jahres vom Wiener Bürgermeister Michael Häupl im Praterstadion eine Gedenktafel enthüllt, die an die Vermessung und Deportation der jüdischen Bevölkerung erinnert. Zwei Überlebende, Fritz Kleinmann und Paul Grünberg, waren anwesend. Ein dritter Zeitzeuge Wiener Herkunft, Gershon Evan, lebt heute in den USA.

 

Mag. David Forster, geboren 1972 in Wien, studierte von 1991 bis 1999 Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Wien. Nach seinem Abschluss war er u. a. Mitarbeiter der Historikerkommission der Republik Österreich, Mitarbeiter im Projekt „Österreichische Opfer der NS-Militärjustiz“ des Wissenschaftsministeriums, Mitarbeiter am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie sowie Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

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