Ein ungewöhnlich eindringliches Buch geht dem Schicksal ungarischer Juden nach, die in Niederösterreich von den Nazis zur Sklavenarbeit gezwungen wurden. Die Fotografin und Projektleiterin Maria Theresia Litschauer dokumentierte dabei zahlreiche Einzelschicksale. In Wort und Bild.
Von Rainer Nowak
„In Wien hat man vielleicht etwas davon gemerkt. Da waren ja viele Juden. Aber bei uns am Land …“. Es gehört zu den fixen Stereotypen Österreichs: Holocaust, Deportation, Kriegsverbrechen? Davon konnte man im „Hinterland“ des so genannten Dritten Reichs doch nichts mitbekommen. Eine glatte historische Lüge. Einem Beispiel für Verbrechen im ländlichen Raum widmet sich die Künstlerin, Fotografin und Forscherin Litschauer in ihrem eben erschienenen Werk „6/44 – 5/45. Ungarisch-Jüdische ZwangsarbeiterInnen“ in einer überraschend berührenden Art. Litschauer, deren Fotos bereits in den ersten Galerien ausgestellt wurden, unternimmt hier die topografische Vermessung eines historischen Verbrechens: Sie dokumentiert das Schicksal ungarisch-jüdischer Zwangsarbeiter, die zwischen Juli 1944 und Mai 1945 vor allem in Niederösterreich, aber auch in Wien eingesetzt waren. Einige von ihnen fanden dabei den Tod. Mühsam gestaltete sich für die Autorin die Recherche über das Schicksal der in 29 niederösterreichische Ortschaften verschleppten Juden. Auf der Suche nach Gräbern sei es meist bei vagen Hinweisen geblieben. Litschauer konstatiert daher einen eklatanten Mangel an Erinnerungs- oder gar Gedenkkultur in den kleinen beschaulichen Orten Niederösterreichs. Dabei war die „Dimension“ der Ausbeutung und Ermordungen enorm: Mehr als 15.000 Juden wurden dem Waldviertel „zugeteilt“. Zynischerweise hatte ausgerechnet einer der Hauptverantwortlichen der Judenvernichtung, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Ernst Kaltenbrunner, ein gebürtiger Österreicher, seiner alten Heimat die Ungarn als Arbeitssklaven „geschenkt“. Litschauer hat sich in ihrer aufwändigen Arbeit auf das Schicksal von 1.200 Opfern konzentriert, die in 31 Betrieben in 29 Ortschaften arbeiten mussten. Das Buchprojekt Litschauers legt akribisch – und geradezu zur Selbst-Recherche vor Ort einladend – das Schicksal der verschleppten und zur Arbeit gezwungenen Juden Ort für Ort nach. In Altnagelberg etwa waren in der Glasfabrik Stölzle bis zu 75 Zwangsarbeiter eingesetzt, Familien inklusive. Das Buch erzählt dabei vom fanatischen Nazi, der „In die Juden gehört eine Panzerfaust“ brüllte, ebenso wie vom Arbeiter, der einen zehnjährigen „Zwangsarbeiter“ zur Seite gestellt bekam und Mitleid mit dem kleinen frierenden Buben hatte. Lebendig werden die Geschichten durch Augenzeugenberichte und viele biografische Aufzeichnungen, die die Schicksale jedem Leser nahe bringen. Und vor allem sind da die eindrucksvollen Fotos Litschauers, die eigentlich das typische harmlose Niederösterreich zeigen, kleine mehr oder weniger benutzte Bahnhöfe. Nach Lektüre des Buchs wirken sie nicht mehr so harmlos.