Gerade in diesem Jahr des Feierns ist es wertvoll, palästinensische Stimmen zu hören, die eine andere Erfahrung mit der Zeit nach 1948 vermitteln. Drei empfehlenswerte Bücher, die den Nahost-Konflikt auf eindringliche und berührende Weise aus palästinensischer Perspektive näherbringen.
Von Eric Frey
Für die meisten Israelis und Millionen von Juden in aller Welt ist Jom haAtzma‘ut, der israelische Unabhängigkeitstag, ein Grund zu Feiern – und ganz besonders der 75. Jahrestag der Gründung des Staates ein Augenblick, an die schier unglaublichen Ereignisse im Jahr 1948 zu erinnern, als kurz nach der größten Katastrophe der jüdischen Geschichte ein jahrtausendealter Traum wieder wahr wurde.
Für Palästinenser und Palästinenserinnen hat der 15. Mai hingegen eine ganz andere Bedeutung: Für sie ist es die Nakba, die Katastrophe, als die einen, die ihre Heimat verloren haben und ins Exil getrieben wurden, als die anderen, die seit 55 Jahren unter einer Besatzung leben oder als Bürger in einem Staat, in dem sie sich trotz weitreichender Rechte als Menschen zweiter Klasse fühlen.
Israelis und Juden werfen der palästinensischen Seite und ihren Unterstützern oft vor, dass sie die Geschichte verzerren und die Sichtweise der jüdischen Bevölkerung in Israel ignorieren – die dringende Notwendigkeit eines eigenen Staates nach der Schoa, die Bereitschaft zum Kompromiss, die jahrzehntelange Furcht vor der Zerstörung ihres Landes durch übermächtige Nachbarn, die ständige Angst vor Terror gegen unschuldige Zivilisten. Aber auch von jüdischer Seite wird die palästinensische Perspektive kaum wahrgenommen, wird allein die Verwendung des Wortes Nakba bereits als anti-israelische Propaganda verurteilt. Das fehlende Verständnis für das andere Narrativ dieses Konflikts verschärft die Bitterkeit bei den beiden Völkern und steht einer politischen Lösung ständig im Weg.
Gerade in diesem Jahr des Feierns ist es daher für Menschen, die sich mit Israel identifizieren und solidarisieren, besonders wertvoll, Stimmen von palästinensischen Autorinnen und Autoren zu hören, die eine ganz andere Erfahrung mit der Zeit nach 1948 vermitteln. Es sind Stimmen, die das Existenzrecht Israels nicht infrage stellen, sondern den Frieden wünschen und auch Respekt für die Errungenschaften des Staates und seiner Gesellschaft zeigen, aber gleichzeitig bewusst machen, wie groß das Leid auf der anderen Seite war.
Drei Bücher, die auf Deutsch vorliegen oder verfasst wurden, eignen sich dafür besonders. Sie vermitteln drei sehr unterschiedlichen Erfahrungen: Es war einmal ein Land: Ein Leben in Palästina von Sari Nusseibeh, einem palästinensischen Philosophen aus Ostjerusalem; Ich werde nicht hassen: Meine Töchter starben, meine Hoffnung lebt weiter von Izzeldin Abuelaish, einem Arzt aus dem Gazastreifen; und Orangen aus Jaffa: Eine wahre Geschichte über das Ende der goldenen Ära Palästinas von Nadine Sayegh, einer Österreicherin palästinensischer Herkunft.
Voller Hoffnung
Nusseibeh wurde 1949 in eine prominente Familie in Ostjerusalem hineingeboren, wuchs unter jordanischer Herrschaft auf und erlebte als junger Mann den Sechstagekrieg und die Annexion seiner Heimatstadt durch Israel. Er studierte in Oxford und Harvard und wurde dann zu einem der führenden palästinensischen Intellektuellen und Funktionär in der PLO, wo er stets für friedliche Wege des Widerstands und eine Zweistaatenlösung eintrat. Fast 20 Jahre führte er als Präsident die al-Quds-Universität in Jerusalem. Es war einmal ein Land ist seine Autobiografie, die erstmals 2007 erschien, als er die Hoffnung auf eine Friedenslösung noch nicht ganz aufgeben hatte. Es ist eine aufregende Lebensgeschichte und ein politisches Manifest eines großen Humanisten.
Was an Nusseibehs Buch fasziniert, ist seine Ablehnung von jeder Art des Fanatismus, ganz besonders im eigenen Lager, sein Respekt für jene Teile der israelischen Gesellschaft, die ebenfalls eine faire und friedliche Lösung des Konfliktes suchen. Umso mehr empören die zahlreichen Vorfälle, in denen Nusseibeh von israelischen Behörden und der Justiz drangsaliert, angeklagt und zeitweise eingesperrt wurde. Der Gedanke drängt sich auf, dass bei einem anderen Umgang mit Palästinensern wie ihm der Friedensprozess der 1990er-Jahre vielleicht doch eine Chance gehabt hätte.
Gegen die Gewalt
Auch im Buch von Izzeldin Abuelaish ist es schmerzhaft zu lesen, wie schmählich sein Einsatz für Versöhnung und Frieden belohnt wurde. Aufgewachsen in einer bettelarmen Flüchtlingsfamilie in einem Camp im Gazastreifen erkämpfte er sich die Chance zu einem Medizinstudium in Kairo, kehrte nach Gaza zurück und wurde dann als erster palästinensischer Mediziner in einem israelischen Krankenhaus tätig. Abuelaish war bereits ein bekannter Friedensaktivist, als beim Einmarsch der israelischen Armee im Gazastreifen sein Haus bombardiert wurde und drei seiner Töchter sowie seine Nichte dabei ums Leben kam. Das israelische TV-Publikum erlebte das Drama live mit, weil Abuelaish während des Angriffs mit einem befreundeten Moderator telefonierte und ihn anflehte, er solle das israelische Militär auffordern, den Beschuss seines Hauses einzustellen – vergeblich.
Abuelaish blieb auch dann dem Frieden und der Versöhnung treu und setzt von Kanada aus, wohin er mit seinen übrigen Kindern emigrierte, den Kampf gegen Hass und Gewalt fort. Seine Autobiografie Ich werde nicht hassen aus dem Jahr 2013 ist vor kurzem neu auf Deutsch erschienen. Bei einer Buchpräsentation in Wien, die ich moderierte, vermittelte der Autor erneut seine Überzeugung, dass es Frieden zwischen einem israelischen und palästinensischen Staat geben kann.
Familiäre Zuflucht
Nadine Sayegh kannte das Schicksal der palästinensischen Diaspora vor allem aus den Erzählungen ihres Vaters Nicolas, der mit seiner christlich-palästinensischen Familie eine unbeschwerte Kindheit in Jaffa verbrachte, aus der er 1948 herausgerissen wurde. Die Familie flüchtete nach Beirut, wo Nadine 1974 auf die Welt kam. Nicolas arbeitete damals bereits für die UNRWA, der Uno-Hilfsorganisation für Palästinenser, und übersiedelte nach Wien, wo Nadine aufwuchs, studierte, arbeitete und heiratete. Doch die Geschichten ihres Vaters über das Leben in Jaffa ließen sie nicht los, bis sie sich im Zuge eines Besuchs in Israel entschloss, darüber ein Buch zu schreiben.
Es ist eine idyllische Welt, die hier beschrieben wird, voller familiärer Zärtlichkeit sowie kleiner und größerer Bubenabenteuer, die erst in Brüche zu gehen beginnt, als das Ende des britischen Mandats immer näher rückt und damit auch der bewaffnete Konflikt. Die Familie Sayegh wurde selbst nicht bedroht, hatte aber Angst vor den zionistischen Kämpfern und glaubte den arabischen Versicherungen, dass sie bald wieder heimkehren könnten. Das Haus der Familie fiel an den Staat, eine Rückgabe ist ausgeschlossen, solange Israel sich im Kriegszustand mit dem Libanon befindet. Nadine Sayegh lebt mit ihrem Mann und Kindern in Wohlstand und Sicherheit in Wien, doch auch ihr Leben ist geprägt vom unwiederbringlichen Verlust einer Welt.
Keines dieser Bücher erzählt die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts vollständig, und die Beschreibung mancher historischer Fakten mag auf Widerspruch stoßen. Aber sie alle machen deutlich, wie sehr auch auf der anderen Seite Trauer, Leid und Menschlichkeit regieren – eine Erkenntnis, die in emotionalen Debatten leicht verloren geht.
Sari Nusseibeh, Es war einmal ein Land: Ein Leben in Palästina, 525 S., Suhrkamp, 2009
Izzeldin Abuelaish, Ich werde nicht hassen: Meine Töchter starben, meine Hoffnung lebt weiter. 272 S., Langen-Müller, 2022
Nadine Sayegh, Orangen aus Jaffa: Eine wahre Geschichte über das Ende der goldenen Ära Palästinas. 160 S., Edition a, 2021