Rabbiner Jacob Biderman wurde im Jahr 1980 vom Rebben (dem Lubawitscher Rebbe Menachem Mendel Schneerson 1902 – 1994, der unter dem Eindruck der Shoah die Chabad Bewegung zur religiös-spirituellen, erzieherischen Betreuung von jüdischen Menschen in der ganzen Welt ausgebaut hat) nach Wien entsandt.
Von Martin Engelberg
NU: War es von Anfang an klar, dass Du Dich um die Bucharen und Georgier kümmern solltest, von denen damals die ersten Familien in Wien gestrandet waren und um die sich niemand kümmerte?
Biderman: Nicht unbedingt. Ich sollte mich einmal in der jüdischen Gemeinde umsehen, was gebraucht wird. Es gab wohl einen Hinweis, dass es Wellen von jüdischen Immigranten aus der Sowjetunion gab, nicht nur bucharische Juden. Der Assistent vom Rebben hatte angedeutet, dass es eine wichtige Aufgabe sein könnte, sich um diese Menschen zu kümmern. Dabei möchte ich auch erwähnen, dass schon einer der Vorgänger des Rebben sich Ende des 19. Jahrhunderts um die bucharischen Juden im damals zaristischen Russland angenommen hat. Das hat auch meine Arbeit hier erleichtert, weil damit Chabad einen Vertrauensvorschuss bei den bucharischen Juden hatte.
Ihr bekommt ja als Schluchim (Mehrzahl von Schaliach, Gesandter des Rebben) überhaupt kein Geld mit, kein Budget – ihr müsst alles von Null an aufbauen.
Ja, genau und am Anfang war es gar nicht einfach. Ich ging von Anfang an in die Tempelgasse (Bethaus der jüdisch-orthodoxen Gemeinde Khal Israel) zum Dawenen (Gebet), etwas verloren, saß aber neben Martin Schlaff und Kalman Teichmann; dazu kamen auch noch Robert Liska und Edith Rosenberg, die mir alle großzügig halfen. Martin Schlaff unterstützt uns bis heute tatkräftig, zum Beispiel finanziert er derzeit unsere Suppenküche, wo vor allem ukrainische Flüchtlinge täglich gratis ein koscheres Essen bereitgestellt bekommen.
Zurück zu damals: Am Weg zur Tempelgasse ging ich durch die Zirkusgasse (alles im 2. Bezirk) und da sah ich Kinder spielen, die hebräisch miteinander sprachen. Zahlreiche russische Flüchtlinge waren ja von Israel wieder nach Wien zurückgekommen. Dann wurde mir gleich klar, dass es hier in der Zirkusgasse und auch noch an anderen Orten im 2. Bezirk, mehrere Häuser der Caritas gab, die voll mit jüdischen Flüchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion waren. Die gingen in öffentliche österreichische Schulen und wir haben dann zuerst einmal einen Nachmittagshort für sie aufgebaut. Ich erinnere mich, ich habe mit ihnen Fußball gespielt, meine Frau hat mit den Mädchen gestrickt. Dann fanden wir eine Frau, die mit den Kindern die Schulaufgaben machte und mit ihnen Deutsch lernte. Und finanziert haben wir das alles mit der Unterstützung dieser Gruppe von Leuten, die ich von der Tempelgasse kannte.
Die Kultusgemeinde hat euch gar nicht unterstützt?
Im Gegenteil. Damals stand die Kultusgemeinde ja noch unter der Führung der Bundisten („Bund werktätiger Juden“, Teilorganisation der SPÖ), die überhaupt kein Verständnis für unsere Anliegen hatten. Ich habe versucht, ihnen zu erklären, dass wir jeden Nachmittag schon 30 Kinder in Betreuung hatten, die Platz bräuchten, aber die Antwort war, die seien Verräter und sollten zurück nach Israel gehen.
Ja eben, die Juden aus der Sowjetunion kamen zuerst nach Wien, wurden aber gleich nach Israel geflogen – sie sind ja nicht hier in Wien geblieben. Einige kamen aus Israel zurück, manche wollten sogar in die Sowjetunion zurück. Das war der große Skandal in der Gemeinde, auch für meine Eltern. Man hatte ja jahrelang dafür gekämpft, dass die Juden aus der Sowjetunion ausreisen konnten, hier in Wien wurden sogar Hungerstreiks für sie organisiert und dann kamen sie von Israel zurück und demonstrierten vor der sowjetischen Botschaft, dass man sie in die Sowjetunion zurückreisen lassen sollte. Das empfanden viele als eine Schande, einen Verrat.
Ja, ich weiß – dieser Schandfleck hat diese Emigranten noch lange begleitet. Aber man musste auch deren Seite hören. Sie sagten, sie hatten es sehr gut in Usbekistan gehabt (Teilrepublik der Sowjetunion und Heimstätte der meisten bucharischen Juden). Sie waren dort nicht so unterdrückt, wie in den großen russischen Städten. Manche hatten sich dort einen schönen Wohlstand geschaffen. Dann kamen die Bucharen nach Israel, mit einer zionistischen Motivation und einige waren dann enttäuscht. Diejenigen, die nach Wien kamen, um hier vor der sowjetischen Botschaft zu demonstrieren, haben eingesehen, dass sie einen großen Fehler gemacht hatten.
Wie ging es dann weiter?
Eines Tages sah ich einen jungen Mann an der Ecke Ferdinandstraße/Tempelgasse stehen, mit einem Schlüsselbund in der Hand. Es war Rami Ungar-Klein und er hatte von der IKG in diesem Haus einen Lagerraum übernommen. Eine Bruchbude, in der er einen Klub für junge Leute machen wollte – feuchte Wände, Substandard. Ich fragte ihn, ob wir die Räume vielleicht tagsüber nutzen könnten für den Nachmittagshort. Im Sommer davor hatten wir noch ein Sommerlager organisiert. Dabei haben uns Professorin Anne Kohn-Feuermann und Sarah Lebovic sehr unterstützt. Sie waren beide wie Engel, sie haben uns auch später sehr viel geholfen.
In diesen Räumen wollten wir dann auch ein Minjan (Gottesdienst) machen zu den Hohen Feiertagen im September 1981, nach sephardischem Ritus. Zuerst hatten wir geschätzt, dass so 30 Leute kommen werden. Wir haben überall im 2. Bezirk Zettel verteilt. Schließlich kamen dann über 200. Das Haus war komplett voll. Dann bekamen wir auch ein Sefer Tora (eine Tora Rolle) und auch Sessel – die waren in einem feuchten Keller gestanden und die sind mitten im Gebet nacheinander mit großem Krach zusammengebrochen. Ein Erlebnis, das viele bis heute nicht vergessen haben. Dadurch habe ich viele der bucharischen Juden kennengelernt, die sich schon ein bisschen etabliert hatten – David Kandov, Benny Binyaminov und Rafael Alaev. Die haben uns sehr großzügig unterstützt und mich auch mit Dr. Grigori Galibov bekannt gemacht. Er war Arzt, arbeitete im Spital der Barmherzigen Brüder und war ein sehr angesehener Mann in der bucharischen Gemeinde. Ich traf ihn dann oft während seines Nachtdienstes, um alles zu besprechen. Er hat sich mit enorm viel Liebe und Hingabe der Arbeit für seine Gemeinschaft gewidmet.
Dann stellte sich heraus, dass es dringend einen Kindergarten brauchte. Die meisten Bucharen haben auf Märkten gearbeitet, noch bevor viele dann Schuster wurden. Die Marktarbeit beginnt ja um 4:00 Uhr in der Früh und Mann und Frau – mussten arbeiten. Aber was machten sie mit den Kleinen? Man lässt sie allein zu Hause – um Gottes willen. Da war dann Simon Wiesenthal sehr hilfreich. Er hatte großen Respekt vor dem Lubawitscher Rebben, er kannte ihn auch persönlich und Wiesenthal bat dann, Paul „Tulli“ Grosz (damals Mitglied des Vorstandes der IKG und später IKG-Präsident) uns zu helfen. Mit seiner Unterstützung konnten wir schließlich in Häusern der IKG, zuerst in der Krummbaumgasse (2. Bezirk) und dann in der Grünentorgasse (9. Bezirk) einen Kindergarten einrichten und er organsierte auch noch, dass wir vom jüdischen Altersheim mit koscherem Essen versorgt wurden. Dort habe ich dann auch Dr. Avshalom „Avi“ Hodik kennengelernt, da war er noch nicht Amtsdirektor und er hat uns bei allen Behördenwegen sehr geholfen. Ein Mann mit Sinn für Gerechtigkeit, der auch in der Kultusgemeinde zu seinen Überzeugungen stand. In der Sozialkommission der Kultusgemeinde fanden wir in weiterer Folge auch eine große Unterstützung bei Georg „Schurli“ Schwarz. Schwarz hatte ein großes Herz, er half den bucharischen Juden auch mit Jobs in der Firma Silesia, in der er arbeitete.
Besonders faszinierend ist ja die Geschichte, wie es Dir gelungen ist, Ronald Lauder (damals US-Botschafter in Österreich und Erbe des gleichnamigen Kosmetikkonzerns) für Deine Projekte zu gewinnen.
Wir waren in einer schwierigen Situation. Es wurde alles sehr teuer – viele Kindergärtnerinnen, Hort-Betreuerinnen und sonstiges Personal. Dazu kam dann noch folgende Situation: Viele bucharische Kinder waren in der zwischenzeitlich gegründeten jüdischen ZPC-Schule zur Volksschule gegangen, es aber dann nicht geschafft ins dortige Gymnasium aufgenommen zu werden und sind rausgeflogen. Das hat den Eltern sehr weh getan und da entstand dann die Idee, dass wir für diese Kinder eine Hauptschule machen. Aber dafür brauchten wir wieder zusätzliche Räumlichkeiten und Geldmittel. Genau zu diesem Zeitpunkt erhielt ich einen merkwürdigen Anruf von Dr. Leon Zelmann der sagte, er würde soeben mit dem US-Botschafter zusammensitzen, der mich kennenlernen wolle. Ich wunderte mich, aber er sagte nur: „Komm einfach!“ Lauder hätte gefragt, wer etwas für jüdische Kinder tun würde, und da hat er mich genannt. Ich habe ihm dann von unserer Arbeit erzählt und er wollte sich das gleich ansehen. Lauder selber hatte keine jüdische Erziehung erhalten. Später erzählte er mir, das wäre wegen der Waldheim-Diskussion gewesen. Dies hätte ihn an seine jüdische Herkunft erinnert. Dann kam er mit dem langen Konvoi an schwarzen Limousinen in die Grünentorgasse und setzte sich im Kindergarten auf so einen kleinen Sessel und konnte mit den Kindern gar nicht reden – sie hatten ja keine gemeinsame Sprache. Er blieb aber dennoch über eine Stunde mit den Kindern. Dann ließ er sich die weiteren Räumlichkeiten zeigen und dann fragte er: „Und was ist in den oberen Stockwerken?“ Wir sagten ihm, dass dort bewohnte Wohnungen wären, und da fragte er, ob wir nicht erweitern wollten. „Natürlich wollen wir!“ antwortete ich, „wir müssen eine Hauptschule machen, aber wir haben kein Geld!“ Daraufhin fragte er, ob man die Nachbarn nicht rausbekommen könne. Ich meinte: „Ich glaube nicht“, aber er sagte: „Ich glaube schon!“ Und tatsächlich hat er sukzessive Stock nach Stock ausgemietet und dort haben wir dann mit der Hauptschule begonnen.
Daraus wurde dann – muss man sagen – ein ganzes Netzwerk, ein Imperium an jüdischen Schulen und Einrichtungen in ganz Mittel- und Osteuropa, die Ronald Lauder gemeinsam mit euch verwirklicht hat.
Ja, zuerst in Budapest, dann in Polen usw. Es ist nicht nur das Geld gewesen, er war immer mit dem ganzen Herzen dabei. Bald schon waren aber auch die Räumlichkeiten in der Grünentorgasse nicht mehr ausreichend. Von der Gemeinde Wien erhielten wir vorübergehend Barac-ken beim Lusthaus im Prater zur Verfügung gestellt, die wir dann für den Kindergarten nutzten. Dann erhielten wir ersatzweise ein Grundstück daneben. Alexander Kahane finanzierte einen Neubau für den Kindergarten und die Volksschule. Das hat die Kultusgemeinde sehr aufgeregt, weil sie uns zunehmend als Konkurrenz ansahen.
Dieses Gebäude ist ja architektonisch sehr schön und existiert heute noch, oder?
Ja, natürlich – wir haben dort jetzt die Kinderkrippe und den Kindergarten untergebracht, die auch gegenwärtig von Alexander Kahane unterstützt wird.
Und jetzt kommt die entscheidende Frage: Wie und wann entstand das große Augarten-Projekt? (Lauder-Chabad Campus im Wiener Augarten)
Irgendwann platzten wir in der Grünentorgasse aus allen Nähten. Da sagte Ronald Lauder, er werde allein eine Schule bauen und er bräuchte dafür keine Partner. Aber es sollte auf einem respektvollen Platz sein, wenn der Campus seinen Namen tragen sollte. Über den Architekten Krischanitz, der ja den Kindergarten im Prater gebaut hatte, wurden wir auf ein Grundstück im Augarten aufmerksam gemacht, das vor dem Krieg der jüdischen Gemeinde gehörte und ein Baugrund war, obwohl alle meinten, dass es Teil des Parks wäre. Die Kultusgemeinde hatte das Grundstück an die Gemeinde Wien verkauft und – es war wie ein Wunder – es war das ideale Grundstück für den Neubau. Der damalige Bürgermeister Häupl gab sofort seine Zustimmung, aber dann entwickelte sich ein gewaltiger Widerstand gegen das Projekt. Alle Zeitungen waren dagegen, eine Bürgerinitiative wurde dagegen gegründet.
Ich erinnere mich daran! Und wie gelang es dann diese massiven Widerstände zu überwinden?
Jetzt erzähle ich Dir etwas – und man muss gläubig sein, um daran zu glauben: Wir waren schon dabei aufzugeben, da schrieb ich einen verzweifelten Brief, bei dem ich ersuchte, dass dieser am Grab des Rebben verlesen wird und bat ihn damit, das Schicksal dieser Kinder, für die wir die Schule bauen wollten, in die Hand zu nehmen. Die Antwort kam, indem wieder einmal plötzlich Dr. Zelman anrief und sagte, dass er mir jemanden schicken wolle. Auf Nachfrage flüsterte er nur den Namen Dichand ins Telefon. Es war also der Eigentümer der Kronen Zeitung, der zu einer Art Beichte zu mir kommen wollte. Tatsächlich saß dann ein doch schon älterer Herr vor mir, geplagt von Schuldgefühlen, dass in seiner Zeitung antisemitische Inhalte erschienen waren. Es war für mich als Rabbiner ein sehr ungewöhnliches Gefühl, wie dieser mächtige Mann, mir schuldbewußt gegenübertrat, wie er es wahrscheinlich gegenüber einem Priester gewohnt war. Er fragte mich, wie er das wiedergutmachen könne und da schoss es mir plötzlich durch den Kopf, dass ja auch die Kronen Zeitung gegen das Schulprojekt kampagnisiert hatte. Nach dem Treffen war alles wie ausgewechselt: Plötzlich befürwortete seine Zeitung das Schulprojekt im Augarten mit voller Kraft, Bäume und Kinder gehören zusammen, er ließ eine Fotomontage erstellen, auf der die Schule schon wunderschön im Augarten eingebettet dargestellt wurde, es erschienen viele positive Leserbriefe – und wie durch ein Wunder drehte sich die Stimmung komplett und wir konnten das Schulprojekt realisieren. Hans Dichand spendete dann sogar die halbe Million Euro für die Ersatzpflanzung von Bäumen, die im Zuge des Schulbaus gefällt werden mussten. Es war ein Wunder, wirklich ein Wunder!
Wann wurde dieser Schulcampus dann eröffnet?
Das war im Jahr 2000, die Grundsteinlegung im Jahr 1997.
Bald sind es 45 Jahre seitdem Du ohne irgendetwas nach Österreich gekommen bist. Wie ist da jetzt der Status all der Institutionen, die Chabad hier geschaffen hat?
Nun, in der Grünentorgasse ist nur noch der vordere Teil in Betrieb. Das Bethaus, hat sich jetzt zu einem Chabad-Zentrum für Israelis entwickelt, die in Wien leben und für die wir eigene Schluchim, Mendi Weinfeld und seine Frau Sari, haben. Es gibt sehr viele Israelis hier in Wien, die nicht Mitglieder der Kultusgemeinde sind und wir haben eine Liste mit 800 Personen, mit denen wir in Kontakt sind.
Das ist erstaunlich, so viele Israelis gibt es in Wien?
Ja, und sie sind zumeist ziemlich anti-religiös, aber sie schic-ken ihre Kinder dort in die „Sunday-School“, es gibt dort Programme, gemeinsame Essen und jeden Schabbat gibt es einen Gottesdienst.
Wie ist jetzt heute die Schule aufgeteilt?
Der Kindergarten und die Krippe befinden sich im Prater, im Augarten Campus sind jetzt die Vorschule, Volksschule und Mittelschule untergebracht und das Gymnasium ist jetzt in einem eigenen Gebäude gegenüber auf der anderen Straßenseite. Dort haben wir jetzt auch eine Handelsakademie und Handelsschule eingerichtet.
Dazu gibt es daneben auch noch in einem eigenen Haus das Bet-Halevi-Zentrum.
Ja, das ist eine sehr schöne Weiterentwicklung, initiiert und betreut von bucharischen Juden der zweiten Generation. Dort gibt es täglich mehrere Gottesdienste, eine Jugendbewegung und eine Frauenorganisation, eine Mikweh (rituelles Bad) und ein Kolel (Talmud Hochschule für verheiratete Männer). Weiters dient das Zentrum für Veranstaltungen, Kurse und zur Förderung jüdischen Lebens insgesamt. Der Platz davor wurde in Rabbiner-Schneerson-Platz umbenannt.
Nicht zu vergessen – es gibt auch noch die Lauder Business School (LBS) in der Hofzeile im 19. Bezirk.
Ja, die LBS kam später dazu, aber wir wollten ja über die bucharischen Juden sprechen. Die LBS entstand nach einem Treffen mit vielen Chabad-Gesandten aus ganz Europa, die sich darüber beklagten, dass jüdische Kinder jüdische Schulen besuchen würden, aber dann würden viele von ihnen verloren gehen, weil sie auf öffentliche Universitäten gingen und dadurch sehr oft nicht-jüdische Partner treffen und heiraten würden. Es ist wieder eine lange Geschichte, bis wir den Campus in der Hofzeile erhielten. Wieder eine Geschichte von Wundern. Aber die LBS bedient nicht so sehr die Wiener jüdische Gemeinde, sie wird von Studenten aus aller Welt besucht. Dazu gibt es am Areal der LBS auch noch die Ohel Abraham Synagoge, geleitet von Rav Shaya Boaz und seiner Frau Sivan, welche die jüdische Community im 19. Bezirk mit Gottesdiensten und sonstigen Veranstaltungen für Erwachsene und Kinder versorgen.
Die letzten Projekte sind das Chabad-Zentrum in der Taborstraße, dann gibt es einen Klub für die internationale jüdische Community im 1. Bezirk, einen weiteren Kindergarten im 19. Bezirk und schließlich das Zentrum für russisch-sprechende, hauptsächlich ukrainische Juden, bei der Albertina.
Ja, Baruch Haschem (Gott sei Dank) hat Chabad heute in Wien zirka 200 Mitarbeiter, viele davon Freiwillige und 40 Projekte von denen 20 richtige Einrichtungen sind. Alles das ist schon das Verdienst der jüngeren Generation an Chabad Schluchim in Wien. Zurück zu den Bucharen: Die Erwachsenen hatten noch keine Erfahrung, wie sich eine solche Community in der westlichen Welt organisieren sollte. Traditionell gab es immer einen Patriarchen, der die Gemeinde führt und entscheidet. So gab es den erwähnten Dr. Galibov, Boris Kandov, Malkiel Kaikov und David Ustoniasov und einige andere. Sie bildeten dann ein Komitee und ich schlug ihnen vor, dass sie sich sephardische Gemeinde nennen sollten, weil das Statut der Kultusgemeinde auch explizit eine solche vorsah. Bis 1980 hatten sie gar keinen Platz, wo sie beten konnten. Gottesdienste fanden in privaten Räumlichkeiten statt. Und dann gab es die Idee, auf dem leerstehenden Grundstück Ecke Tempelgasse/Ferdinandstraße ein sephardisches Zentrum zu bauen. Wieder war es Ronald Lauder, der uns finanziell sehr dabei unterstützte und der damalige IKG-Präsident „Tulli“ Grosz stand uns politisch bei. Es war dann doch recht kompliziert, die verschiedenen Communities, also nicht nur die bucharischen, sondern auch die georgischen und kaukasischen Juden in diesem Zentrum unterzubringen. Pikanterweise fanden diese Gespräche in der US-Botschaft in der Boltzmanngasse statt. Und schließlich ist es dann doch gelungen, alles unter einen Hut zu bringen.
Heute macht die sephardische Gemeinde in etwa ein Drittel der jüdischen Gemeinde aus und man muss sagen – insbesondere auch durch Deine bzw. Eure Hilfe – ist die Integration der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zu einer Erfolgsgeschichte geworden.
Wenn man auf die Jahrgänge der unter Zwanzigjährigen schaut, dann sind sie heute vielleicht sogar schon die Mehrheit. Und die Entwicklung dieser Zuwanderer ist in mehrfacher Hinsicht tatsächlich beeindruckend: War es anfangs sogar schwer ein Minjan (10 Betende) zusammenzustellen, gibt es heute in Wien fünf Synagogen nach bucharischem Ritus mit täglichen Gottesdiensten und Lehrstunden. Ich bewundere und verehre die bucharischen Juden zutiefst für ihre Treue zum Judentum und für den Erhalt ihrer jüdischen Tradition. Wir sehen bei ihnen praktisch keine Assimilation. Auch beruflich gibt es eine großartige Entwicklung: Zuerst waren manche von ihnen Marktständler, dann haben viele so kleine Schuhreparatur- und Schlüsseldienst-Geschäfte eröffnet. Die nächste Generation hat sich in den Immobilienmarkt gestürzt und in der Zwischenzeit haben sich viele der jüngeren Generation bereits voll integriert, sind als Ärzte, Rechtsanwälte und in den unterschiedlichsten unternehmerischen und akademischen Berufen tätig. Diese Zuwanderergemeinschaft ist wirklich eine tolle Erfolgsstory!


Ein halbes Jahrhundert Tradition und Gemeinschaft
Die Geschichte der bucharisch-jüdischen Gemeinde in Österreich begann vor 50 Jahren, als erste Familien aus Zentralasien hier eine neue Heimat fanden. Die bucharischen Juden, die ursprünglich aus Regionen wie Usbekistan, Tadschikistan und Kasachstan stammen, gehören zu einer einzigartigen ethnischen und kulturellen Gruppe innerhalb des Judentums. Ihre Geschichte reicht bis in die Antike zurück und ist durch eine besondere Mischung aus jüdischer Tradition und zentralasiatischen Einflüssen geprägt.
Auf der Flucht vor politischer und religiöser Verfolgung in der Sowjetunion, aber auch in der Hoffnung auf bessere wirtschaftliche und soziale Perspektiven, waren sie zuerst über Österreich nach Israel emigriert. In den 1970er Jahren kamen die ersten bucharischen Juden von Israel wieder zurück nach Österreich. Eine kleine, wachsende Gruppe entschied sich, dauerhaft in Österreich zu bleiben und eine eigene Gemeinschaft aufzubauen, bei der die Religion und die eigenen Traditionen eine zentrale Rolle spielten. Die bucharischen Juden werden dem sephardischen Teil des Judentums zugeordnet.
In den 1980er-Jahren begannen sie sich mit Unterstützung von Chabad (siehe Interview mit Rabbiner Bidermann) und später auch der Kultusgemeinde zu organisieren. Es wurden der Verein der bucharischen Juden, VBJ, sowie Bethäuser, Schulen und verschiedene Organisationen gegründet. Mit ihren zirka 3.000 Mitgliedern bilden sie heute ungefähr ein Drittel der jüdischen Gemeinde. In den letzten fünf Jahrzehnten hat sich die bucharisch-jüdische Gemeinschaft in Österreich zu einer stabilen und gut vernetzten Gruppe entwickelt. Sie legt großen Wert auf die Pflege sozialer Netzwerke, die ihren Mitgliedern helfen, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Auch soziale Projekte und karitative Initiativen gehören zur Arbeit der Gemeinde. Die bucharisch-jüdische Gemeinschaft hat jedoch auch Herausforderungen erlebt. Die erste Generation sah sich mit kulturellen Unterschieden und den Anforderungen einer neuen Gesellschaft konfrontiert. Sprachbarrieren und das Fehlen von etablierten Strukturen erschwerten anfangs die Integration. Doch durch den Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft und das Engagement für Bildung und gegenseitige Unterstützung konnte die Gemeinde ihre Position in der Gesellschaft festigen. Auch in der jüngeren Generation gibt es ein starkes Bewusstsein für Herkunft und Tradition. Die Jugendlichen werden aktiv dazu ermutigt, sowohl das bucharische Erbe als auch die österreichische Identität zu schätzen. Durch die Verbindung von Tradition und Modernität gelingt es der Gemeinde, das kulturelle Erbe zu bewahren und gleichzeitig die Herausforderungen einer globalisierten und sich wandelnden Welt anzunehmen. (Danielle Spera)