Die Reise hat begonnen

Rabbiner Marc Schneier gilt als einer der einflussreichsten Rabbiner der USA. Er hat einen besonderen Bezug zu Wien. Sein Vater Arthur Schneier – ein ebenfalls sehr bekannter Rabbiner – stammt aus Wien. Marc Schneier ist eine der führenden Personen im Dialog zwischen der muslimischen Welt und dem Judentum. NU hat ihn in New York besucht.
Von Martin Engelberg (Interview) und Mark Abramson (Fotos)

 

NU: Ihr Vater stammt aus Wien. Haben Sie einen besonderen Bezug zu Wien?

Rabbiner Schneier: Meine Verbindung ist erst in letzter Zeit entstanden. Ich war erst vor kurzem überhaupt zum ersten Mal in Wien. Ironischerweise wegen König Abdullah, weil ich bei der Errichtung seines interreligiösen Zentrums in Wien involviert war. Ja, ich habe Geschichten über Wien gehört, aber das waren keine guten. Mir wurde nur erzählt, was meine Familie 1938 durchgemacht hat. Erst bei der Einweihung des Abdullah-Zentrums 2012 fuhr ich zum ersten Mal gemeinsam mit meinem Vater nach Wien und habe auch zum ersten Mal die Gräber meiner Vorfahren besucht. Im Jüdischen Museum Wien habe ich ein Foto der „Polnischen Schul“ entdeckt. Mein Vater hat dort gebetet und diese Synagoge nicht mehr gesehen, seit sie in der „Kristallnacht“ zerstört wurde. Durch all das entstand bei mir sehr schnell eine tiefe und starke emotionale Bindung zu Wien. Ich war auch von den verschiedenen Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde beeindruckt. Für mich ist Wien ein Geheimtipp.

Sowohl Ihr Vater als auch Sie sind sehr im interreligiösen Dialog engagiert – Ihr Vater mit der katholischen Kirche, Sie mit der muslimischen Welt.

Das spiegelt einfach die unterschiedlichen Anliegen der beiden Generationen wider. Während mein Vater sicher für seine großartigen Beziehungen zur katholischen Kirche in die Geschichte eingehen wird, sind diese für unsere Generation nicht mehr so zentral. Ich war vor wenigen Wochen in Rom und hatte die Ehre, dort vor dem Parlament über meine Arbeit für die muslimisch-jüdischen Beziehungen sprechen zu dürfen. Danach fragte mich ein Abgeordneter, was ich mir vom bevorstehenden Besuch des Papstes in Israel erwartete. Darauf antwortete ich ihm: „Natürlich bin ich begeistert, dass der Papst nach Israel kommt, aber es würde mich noch viel mehr freuen, wenn König Abdullah von Saudi-Arabien nach Israel käme.“ Erfreulicherweise gibt es heute in den Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem Judentum keine großen Probleme mehr. Als vor kurzem jüdische Freunde des Papstes aus Argentinien in Rom zu Besuch waren, bestand die größte Schwierigkeit darin zu entscheiden, in welches koschere Restaurant sie mit Franziskus zu Mittag essen gehen würden.
Die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts ist es, einen Weg zu finden, um die Kluft zwischen Muslimen und Juden zu verkleinern. Es gibt 14 Millionen Juden in der Welt und 1,4 Milliarden Muslime. In einigen Teilen der Welt, wie z. B. in Europa, wird das zu einer immer größeren Herausforderung. Ich versuche den führenden Persönlichkeiten des Judentums in den USA und in der Welt die Wichtigkeit des interreligiösen Dialoges zu vermitteln.

Wie ist die Reaktion in der muslimischen Welt auf Ihre Initiativen? Unterschiedlich. Ich finde, dass es sehr viele Muslime gibt, sowohl in der Führung als auch an der Basis, die sich im Dialog mit uns Juden engagieren. Natürlich ist der Konflikt mit Israel eine Quelle von Problemen. Der Islam und das Judentum sind sich näher als jede andere Religion. Wir teilen als Kinder Abrahams den gleichen Glauben und das gleiche Schicksal. Wir haben uns auf diesen Weg gemacht, nachdem wir die Beziehungen zwischen der afro-amerikanischen und der jüdischen Community wiederhergestellt hatten, die Anfang der 1990er-Jahre einen Tiefpunkt erreicht hatten. Die muslimisch-jüdischen Beziehungen sind eine ganz andere Herausforderung, aber es dauerte auch 40 Jahre, bis Moses die Juden ins Heilige Land brachte. Wir sind sicher noch nicht im Heiligen Land und zu einer muslimisch-jüdischen Versöhnung gelangt, aber das Gute ist, dass die Reise begonnen hat.

Und wie reagieren die Juden auf Ihre Initiative? Was sagen Ihre Gemeindemitglieder dazu?

Anfangs haben sie mich ausgelacht. Aber so wurde ich auch 1990 ausgespottet, als wir anfingen, an den Beziehungen mit den Afro-Amerikanern zu arbeiten. Das war die Zeit, als sich Jesse Jackson, Al Sharpton und andere schwarze Persönlichkeiten ganz offen antisemitisch äußerten. Vergessen Sie auch bitte nicht, dass wir nicht nur einfach an einem Dialog arbeiten. Das wäre uns nicht genug – unsere Latte liegt viel höher. Menschen, die für ihre eigenen Rechte eintreten, sind nur dann ehrenwert, wenn sie sich auch für die Rechte der Anderen einsetzen. Ich habe Kontakt zu den prominentesten muslimischen Persönlichkeiten der USA aufgenommen und wir haben damals z. B. gemeinsam einen Brief zur Freilassung von Gilad Shalit (Anm. d. Red.: israelischer Soldat, der über fünf Jahre von der Hamas im Gazastreifen gefangen gehalten wurde) geschrieben. Das war das allererste Mal, dass sich Muslime in dieser Sache engagierten.
Das gilt übrigens auch für Österreich: Vor wenigen Tagen war eine Delegation der Stadt Wien hier bei uns zu Besuch und wir haben darüber gesprochen, dass in Österreich bei einer Gesamtbevölkerung von acht Millionen Menschen ca. 800.000 Muslime leben, deren Zahl immer weiter steigt. Man kann nicht zulassen, dass sich diese Muslime darüber lustig machen, was den Juden in diesem Land passiert ist. Und dieses Problem gibt es heute in ganz Europa.

Es ist auch aufgefallen, dass Sie – gemeinsam mit 150 bedeutenden amerikanisch- jüdischen Persönlichkeiten – einen Brief an Premierminister Netanyahu geschrieben haben, in dem Sie ihn aufforderten, wirklich ernsthafte Verhandlungen mit den Palästinensern zu führen.

Normalerweise diskutiere ich darüber nicht in der Öffentlichkeit, aber es geht hier einfach um die Frage der sich verändernden Demographie der Region. Wenn wir jetzt nicht etwas tun, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass die Juden in Israel zur Minderheit werden. Was mir an dieser Plattform gefiel, war, dass wir immer gesagt hatten, die Palästinenser würden keine Gelegenheit auslassen, eine gute Gelegenheit zu verpassen, und jetzt liegt es aber an Israel. Aber auch die Palästinenser dürfen die jetzige Chance nicht vertun.

Es ist sehr beeindruckend, wie sehr Sie sich in kontroversiellen Fragen des Judentums und Israel exponieren. Das scheint den führenden Persönlichkeiten des Judentums in Europa und auch in Österreich nicht möglich zu sein.

Es herrscht im Judentum ganz allgemein ein sehr rigides System, nicht nur im religiösen Sinn, auch im kulturellen. Nicht nur in Europa, sondern auch in den USA gibt es wenige jüdische Führungspersönlichkeiten, die sich offen äußern. Daher weiß ich nicht, ob ich repräsentativ bin. Ich bin wohl eher ein Pionier, ein Visionär. Ich habe vor 25 Jahren „am Ende der Welt“, auf Long Island, dem Sommerurlaubsgebiet der New Yorker, eine Synagoge gegründet, da haben mich alle für verrückt gehalten und jetzt haben wir dort 500 Familien als Mitglieder. In der warmen Jahreszeit kommen 1.000 Menschen zu den Gottesdiensten und unseren Veranstaltungen.

Sie haben diese Gemeinde ja tatsächlich wie eine Firma gestartet und betreiben sie auch so.

Ich sage immer: „There’s no business like Shul business.“ (lacht herzhaft)

Darf ich das zitieren?

Na klar! Am Ende mache ich es nicht anders als Chabad (Anm. d. Red.: Chassidisch-orthodoxe Bewegung, die auf der ganzen Welt versucht, Juden zur Rückkehr zur Religion zu bewegen). Nur, dass ich keinen Bart habe und nicht so angezogen bin. Aber sonst verwenden wir die gleiche Formel. Das große Problem heute ist, dass wir keine großen rabbinischen Persönlichkeiten haben, sei es von einem religiösen, politischen, sozialen oder sonstigen Standpunkt aus gesehen. Rabbiner sind heute nichts anderes als Verwalter und ich glaube, dass die jüdischen Gemeinden heute nach Leadership schreien. Nicht jeder ist mit meiner Art von Führung einverstanden, aber glücklicherweise sind es genug. Aber es wäre nett, dabei mehr Gesellschaft zu haben.

Wie ist Ihre Position in der Orthodoxie? Bezeichnen Sie sich als „modernorthodox“?

Ich empfinde mich als orthodox, genauso orthodox wie die anderen Orthodoxen. Natürlich gibt es Momente, wo wir unterschiedliche Wege gehen müssen, aber das ist auch okay so. Das Problem ist die Arroganz, wenn jemand sagt, dass sein Weg der einzig mögliche ist. Ich war viele Jahre Präsident der New Yorker Rabbiner, das waren 1500 Rabbiner, angefangen von den liberalsten Gemeinden, und wir haben es wunderbar geschafft zusammenzuarbeiten. Wir müssen im Judentum zu dem Punkt kommen, dass es nicht nur den einen möglichen Weg gibt. Die Tragödie der Zerstörung des Tempels in Jerusalem ging vor allem mit dem Verlust des Sanhedrins (Anm. d. Red.: Der Hohe Rat – zur Zeit des Tempels die oberste jüdische religiöse und politische Instanz und gleichzeitig das Oberste Gericht) einher. Seither haben wir keine Instanz mehr, um die wichtigen Fragen des Judentums zu entscheiden und so verharren wir zu oft in einem Stillstand und einer Rigidität.

Marc Schneier (geb. 1959) definiert sich als orthodoxer Rabbiner und ist das Oberhaupt der von ihm gegründeten, höchst erfolgreichen The Hampton Synagogue auf Long Island, außerhalb von New York. Er ist einer der Vizepräsidenten des World Jewish Congress und war der Präsident des Rates der nordamerikanischen Rabbiner. 2013 hat er gemeinsam mit Imam Shamsi Ali das Buch Sons of Abraham mit einem Vorwort von Ex-Präsidenten Bill Clinton herausgegeben.

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