Begabungen sind nicht angeboren, sondern können anerzogen werden – um diesen Standpunkt praktisch nachzuweisen, widmete sich László Polgár völlig der Erziehung seiner drei Töchter Zsuzsanna, Zsófia und Judit. Alle drei wurden exzellente Schachspielerinnen.
VON ANATOL VITOUCH
Lange Zeit war Schach ein Spiel nur für Männer. Zwar berichtete die höfische Kultur noch lustvoll vom Brettkampf zwischen den Geschlechtern, in dem die Frau oft schon allein deshalb siegreich blieb, weil ihre Anmut die Aufmerksamkeit ihres Gegners vom Spielgeschehen ablenkte (Der Film The Thomas Crown Affair mit Steve McQueen und Faye Dunaway bietet in seiner berühmten Schach- Szene eine moderne Interpretation dieses Themas). Aber spätestens mit der massenhaften Verbreitung des Spiels als Bestandteil der europäischen Kaffeehauskultur blieben die Frauen im wahrsten Sinne des Wortes ausgesperrt: Wie die Rauchsalons und die Billardzimmer waren auch die Räumlichkeiten der Schachklubs für Frauen unbetretbar.
Dieser Zustand änderte sich schrittweise erst im Zuge der Professionalisierung des Spiels und der Gründung des Weltschachbundes FIDE im Jahr 1924. Wie im physischen Sport wurden nun auch im Schach Damenbewerbe eingerichtet, ab 1927 gab es sogar eine eigene Damen-WM, die bis 1944 von der Anglo-Tschechin Vera Menchik dominiert wurde. Jahrzehntelang war Menchik die einzige Frau, die Meisterstärke erreichte, was sie aber nicht vor dem Spott der Schach- Machos schützte: Der Wiener Schachmeister Albert Becker regte 1929 anlässlich ihrer Teilnahme am internationalen Karlsbader Turnier die Gründung eines „Vera-Menchik-Clubs“ an, in dem all jene männlichen Spieler Zwangsmitglieder werden sollten, die der Namenspatronin am Brett unterlagen. Als Becker in der ersten Runde des Turniers prompt zum ersten Club-Mitglied wurde, dürfte ihm das Lachen allerdings im Hals stecken geblieben sein. Später erhielt der Club mit Weltmeister Max Euwe und Ex- Wunderkind Samuel Reshevsky noch ein paar hochrangigere Mitglieder.
Trotz der gelegentlichen Erfolge der Menchik in Männerbewerben galt es bis in die 1980er-Jahre als undenkbar, an der Geschlechtertrennung im Schachsport grundsätzlich zu rütteln. Keine andere Frau erreichte die nötige Spielstärke, um die Männerwelt im Schach herauszufordern, obwohl das Frauenschach mehr Zulauf erhielt: so etwa die 1899 geborene österreichische Jüdin Salome Reischer, die 1937 das erste Mal an einer Damen- WM teilnahm, bald darauf in die USA emigrieren musste und nach ihrer Rückkehr nach Österreich in den 50er-Jahren noch dreimal Staatsmeisterin der Damen wurde.
Man wird zum Genie trainiert
Paradoxerweise war es ausgerechnet ein Mann, der sich in den Kopf setzte, die Gleichwertigkeit des weiblichen Geschlechts im Schach ein für allemal zu beweisen: Der ungarisch-jüdische Psychologe und überzeugte Behaviorist László Polgár wollte mithilfe seiner drei kleinen Töchter Zsuzsanna, Zsófia und Judit zeigen, dass man zum Genie nicht geboren, sondern trainiert wird. Geistige Höchstleistungen auf einem Spezialgebiet waren nach Polgárs Überzeugung einzig und allein das Ergebnis harter Arbeit. Für den Beweis dieser Annahme schien das Schachspiel, in dem Erfolg objektiv messbar ist, das ideale Exerzierfeld. Polgárs Ansinnen brachte ihm im kommunistischen Ungarn allerdings einige Schwierigkeiten ein. Dass er seine Töchter ausschließlich daheim unterrichtete, stieß auf ebenso wenig Gegenliebe, wie sein Aufbegehren gegen ihre Ghettoisierung in reinen Mädchenturnieren. Erst bei der Jüngsten der drei, der am 23. Juli 1976 geborenen Judit, war der ungarische Schachverband mürbe gemacht. Sie erhielt eine Spezialgenehmigung für die Teilnahme an Knabenbewerben – mit durchschlagendem Erfolg: 1988 und 1990 gewann Judit die U12- und U14-WM der Buben, wobei sie jeweils das einzige Mädchen unter einer Hundertschaft von Teilnehmern war. Auch außerhalb der kleinen Schachwelt erregte sie spätestens öffentliche Aufmerksamkeit, als sie im Alter von 15 Jahren und 4 Monaten den Großmeistertitel der Männer errang – und damit Bobby Fischers legendären Rekord um einen Monat überflügelte. Der Rest ist (Schach-)Geschichte: Schrittweise stieg Judit Polgár, für ihren aggressiv-taktischen Stil zunehmend gefürchtet, in Richtung Spitze der Männer-Weltrangliste auf und lag mit ihrem Rating zeitweise unter den Top Ten. Der Sprung ganz an die Spitze blieb ihr trotz zahlreicher Turniererfolge und Partie-Siege gegen insgesamt zehn(!) amtierende oder ehemalige Weltmeister (darunter auch der aktuelle Titelträger Magnus Carlsen) verwehrt. Ob man diese Tatsache als Widerlegung von László Polgárs These interpretieren möchte, dürfte Geschmackssache sein.
Tatsache ist, dass alle drei Polgár Schwestern offenbar auch über Interessen und Kompetenzen jenseits der 64 Felder verfügen. Jede der drei hat mittlerweile je zwei Kinder zur Welt gebracht (dabei kostet schon eine Ehe nach alter Schachspielerweisheit mindestens 100 ELO-Punkte!). Zsuzsanna (heute Susan) wanderte in die USA aus, wo sie in Saint Louis ein Schach- Ausbildungszentrum leitet. Zsófia ist als Lehrerin in Tel Aviv sesshaft, wohin ihr auch Vater Laszló und Mutter Klára folgten. Und Globetrotterin Judit, die einzige der Schwestern, die tatsächlich den Weg zum reinen Schachprofi einschlug, gab im August dieses Jahres bekannt, das Schachbrett beruflich künftig an den Nagel zu hängen.
Ihre Begründung: Es gebe Wichtigeres im Leben. Eine Erkenntnis, mit der sie vielen ihrer männlichen Kollegen wohl mehr voraus hat als nur ein paar ELO-Punkte.