Die Geschichte von Rahel* und Benyamin* ist eine Geschichte von Aus- und Einwanderungen, von ruhelosem Suchen nach einer neuen Heimat und vergeblicher Hoffnung, vermisste Verwandte wiederzufinden. Eine Familiengeschichte.
Von Rosalinda und Mark E. Napadenski
Ein Großteil der jüdischen Gemeinde, sowohl in Israel als auch in anderen Teilen Europas – vor allem aber in Deutschland und Österreich –, hat seine Wurzeln in der Sowjetunion. Aufgrund der gemeinsamen Fluchterfahrung, einer ähnlichen Sozialisierung im sowjetischen Schulsystem sowie der gemeinsamen Sprache haben viele sowjetstämmige Familien in der Diaspora zueinander gefunden. Und so ist es ganz normal, dass der Onkel aus der Ukraine, die Großmutter aus Weißrussland und die Schwägerin aus Usbekistan kommen: eine Melange von Familiengeschichten, Mythen und historischen Fakten.
Identität als Konflikt
So ähnlich ist es auch in unserer Familie. In ihr vereinen sich mittlerweile – nach heutigen Grenzen – Menschen aus Moldau, der Ukraine, Weißrussland, Russland, Israel, Deutschland, Österreich und Slowenien. Ein Großteil davon ist jüdisch und in der Sowjetunion geboren. Die Wurzeln liegen in der UdSSR, zudem sind wir Teil der sogenannten bergjüdischen Minderheit. Die Bergjüdinnen und -juden kommen ursprünglich aus der Kaukasus-Region und pflegen eine eigene Sprache (Juhuri) sowie selbstständige religiöse Riten. Der Großteil dieser Volksgruppe lebt heute in Israel.
Zwischen die sehr unterschiedlichen und teils tragischen Fluchtgeschichten mischen sich auch in unserer Familie beschönigende Narrative über die Wurzeln der eigenen Geschichte. Denn oft sind Fakten weniger wichtig als der Wunsch, die eigene Herkunft – in verloren geglaubter Größe – schöner darzustellen, als sie tatsächlich ist.
Es gehört zur jüdischen Tradition, die eigene Geschichte und die des Volkes immer wieder zu erzählen, und so wird aus lustigen Anekdoten und weniger glaubhaften Fantasien oft die Familiengeschichte zur eigenen Identität. Und ausgerechnet diese ist in Zeiten wie diesen für viele Menschen Zielscheibe für Vorurteile: Russisch und jüdisch zu sein und trotz der Ereignisse im Zweiten Weltkrieg Deutschland oder Österreich als neue Heimat auszuwählen, ist eine Kombination mit großem Konfliktpotenzial.
Obwohl Österreich zunächst nicht als der ideale Ort für die Niederlassung russisch-jüdischer Menschen galt, ist ihr Anteil in der jüdischen Gemeinde relativ hoch. Und eine oft übersehene Minderheit unter ihnen bilden die Bergjüdinnen und -juden.
Geschichte mit Fragezeichen
Wir möchten an dieser Stelle die individuellen Erlebnisse und die historisch relevanten Ereignisse gegenüberstellen, die Erzählungen und unterschiedlichen Erfahrungen der ersten in Österreich geborenen Generation und ihrer Familien zur Sprache bringen. Denn ihre Geschichte ist nicht so linear und stringent wie die anderer Jüdinnen und Juden, die aus der UdSSR über Wien nach Israel ausgewandert sind. Wegen der oftmals tragischen Ereignisse und des damit einhergehenden Schweigens ist für die dritte Generation die eigene Familiengeschichte oft mit einem großen Fragezeichen versehen. Wir wollen daher die Geschichte einer ebenfalls bergjüdischen Familie erzählen, die einen besonderen Weg aus der Sowjetunion und wieder retour genommen hat; die weder in Israel noch in den USA eine Heimat finden konnte und schlussendlich in Wien landete, um hier eine Existenz aufbaute.
Großmutter Pina
Wir sind unterwegs mit Rahel A. und spazieren im 9. Wiener Gemeindebezirk durch jene Gasse, die einst ihr kleines Geschäft beherbergte. Die erste Wohnung der Familie befand sich in der Josefstadt. Rahel hat ihr Leben ihrer scharfsinnigen Großmutter Pina zu verdanken. Nach dem Vormarsch der Nazis in die Ausläufer des Kaukasus-Gebirges wurde in einigen Dörfern und Städten die jüdische Bevölkerung für die Transporte vorbereitet. So auch die Familie von Großmutter Pina. Die deutschen Truppen gingen bei der Kontrolle der Namenslisten aller jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner im Dorf von Haus zu Haus. Als sie zu ihr kamen, sagte Großmutter Pina, dass die gesuchte jüdische Familie nicht mehr in diesem Haus wohne und dass ihr Name „Durma Kursejevna“ wäre, was auf Deutsch übersetzt so viel wie „Krautroulade und Fleischtaschen“ bedeutet. Das, so ahnte sie, würden die deutschen Truppen, selbst wenn sie ein wenig Russisch hätten sprechen können, nicht verstehen, da „Durma Kursejevna“ aus der Juhuri-Sprache stammt, der Alltagssprache der bergjüdischen Menschen. Sie erfand für jedes Familienmitglied einen eigenen Namen – es waren allesamt Speisen. Rahel beispielsweise bekam den Namen „Inghar Kursejevna“. Inghar sind dünne, viereckige Teigblätter, die zumeist mit Fleisch angebraten werden.
So verschaffte Pina ihrer Familie genügend Zeit, um die Flucht in ein abgelegenes Bergdorf weiter südlich anzutreten. Sie versteckten sich auf dem Heuwagen eines muslimischen Nachbarn. Die damals erst vierjährige Rahel erzählt heute noch von dem Ausblick auf den Elbrus und die Kälte im Gesicht, die sie verspürte, als sie aus dem Heu lugte.
Zur selben Zeit verbrachte Benyamin, der zukünftige Ehemann von Rahel, den Krieg als junger Bub in Birobidschan, im fernen Osten Russlands. Sein Großvater war Offizier der polnischen Armee, sein Urgroßvater, Oberrabbiner einer polnischen Gemeinde, wurde mit einem der ersten Transporte nach Auschwitz deportiert und ermordet. Doch wie konnte Benyamins Familie aus Polen so weit in den Osten nach Birobidschan reisen? Diese Frage hat man sich in der Familie immer wieder gestellt, so Rahel, doch über den tatsächlichen Verlauf der Dinge hätte man sich nie einigen können. Laut Benyamins Version sei es darauf zurückzuführen, dass seine Mutter während des Krieges Kontakte zum sowjetischen Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (Narodny Kommissariat Wnutrennich Del, NKWD) pflegte und sie sich deshalb freier im Land und über die Grenzen bewegen konnten.
Zwischenlager Schönau
Im Jugendalter kehrten beide Familien wieder in den russischen Teil des Kaukasus zurück, wo Rahel und Benyamin einander kennenlernten. Sie heirateten, bekamen drei Kinder, lebten in einem bescheidenen Haus. Doch sie erwarteten sich mehr vom Leben, als es die kommunistischen Möglichkeiten zuließen. Zudem war die allgemeine Situation in der Region sehr angespannt. Also wanderten sie 1972 mithilfe einer jüdischen Organisation über Wien, Israel und Rom in die USA aus. Die Regierung Bruno Kreiskys hatte das Zwischenlager Schloss Schönau eingerichtet, von wo aus jüdische Menschen nach Israel auswandern konnten. Und obwohl das die meisten vorhatten, zogen es dennoch viele vor, in Europa zu bleiben oder weiter in die USA zu emigrieren. Doch diese Schneise aus der UdSSR in den Westen hielt nicht lange an: Am 28. September 1973 wurden jüdische Personen, die mit dem Zug aus der UdSSR nach Wien fuhren, als Geiseln genommen. Die Forderung der Geiselnehmer: Schönau zu schließen, um die weitere Emigration von jüdischen Menschen nach Israel zu verhindern. Die Regierung Kreisky erfüllte die Forderung der Geiselnehmer.
In Amerika
Wer es nach Los Angeles geschafft hatte, erhielt viel Unterstützung von der dort ansässigen jüdischen Gemeinde. Bis heute schwärmen Rahel und ihre Kinder von dem Haus, das sie in Kalifornien bewohnten, vom prächtigen Wetter und den kulinarischen Entdeckungen. Hannah, eine von Rahels Töchtern, ist immer noch auf der Suche nach diesen Kindheitsgerüchen und -geschmäckern wie „Twizzlers“, einer Art Erdbeer-Lakritze. Die Familie wollte in Los Angeles sesshaft werden, doch Benyamin entschied anders: Man übersiedelte, aus unbekannten Gründen, nach New York. Hier buk Rahel in einer jüdisch-orthodoxen Bäckerei Mazoth. Heute hat sie, aufgrund der Emigration und der vielen Ortswechsel, wenig aus ihren früheren Lebensorten behalten. Vielleicht präsentiert sie uns gerade deshalb stolz das Holz, mit dem sie damals in New York die Mazoth ausrollte. Und schwört, dass es keinen besseren Teigroller gebe.
Zurück in die UdSSR
Doch die Vereinigten Staaten sollten noch lange nicht die letzte Station sein: Benyamin, der sich im kapitalistischen Amerika nicht zurechtfand, war trotz großer Anstrengungen nicht erfolgreich, weshalb er in den 1970er Jahren den absurd scheinenden Beschluss fasste, in die UdSSR zurückzukehren. Widerwillig fügte sich die Familie seinem Wunsch. Weil die Repatriierung jüdischer Exilantinnen und Exilanten in die Sowjetunion ziemlich selten vorkam, wurden der Familie sogar mehrere propagandistische Zeitungsartikel gewidmet, um zu zeigen, welche Perspektiven der Kommunismus im Gegensatz zum Kapitalismus biete. Angeblich fand diese Geschichte sogar Niederschlag in einem Buch, das damals erschien. Leider blieb keine Ausgabe in Rahels Besitz.
Nach einigen Jahren in der alten Heimat schien allerdings auch der Kommunismus keine Perspektive für das Wohlergehen der Familie zu bieten. Zwar lebte sie in bürgerlichen Verhältnissen in einem großen Haus. Dennoch schien es keine verlockende Option, wieder die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Dies hatte allerdings zur Folge, dass sich die Familie nur sehr eingeschränkt im Land bewegen durfte. Also beschloss man 1980, abermals auszuwandern. Diesmal – wieder über Wien – nach Israel.
Israel
Von besonderer Bedeutung scheint dafür eine Begegnung von Benyamin mit Golda Meir gewesen zu sein. Als er noch in Birobidschan zur Schule ging, hatte Meir, damals die erste israelische Botschafterin in der Sowjetunion, nämlich angeblich seine Schulklasse besucht. Auf die Frage, wer denn jüdisch sei, zeigte Benyamin als einziges Kind auf. Worauf sie gesagt haben soll, dass Benyamin, falls er je in Israel leben wolle, sich bei ihr persönlich melden könne. Fast dreißig Jahre später meldete er sich tatsächlich. Er wurde zum Abendessen eingeladen und der Familie geholfen, in Israel Fuß zu fassen. Doch auch hier sollte sie nur ein Jahr bleiben und innerhalb dieser Zeit dreimal umziehen.
Die Odyssee war immer noch nicht zu Ende. Denn so wie viele Jüdinnen und Juden waren auch Rahel und Benyamin enttäuscht von den Versprechungen Israels. Bekannte, die sie im Zwischenlager Schönau kennengelernt hatten, schwärmten ihnen hingegen von Wien vor. Also beschlossen sie, ein letztes Mal, auszuwandern, um schlussendlich in Österreich sesshaft zu werden.
Daheim in Wien
Wir spazieren mit Rahel an ihrer alten Wirkungsstätte neben dem Alten AKH vorbei. Hier führte sie bis zu ihrer Pensionierung ein kleines Lebensmittelgeschäft. Endlich waren sie an einem Ort angelangt, wo sie sich vorstellen konnten zu bleiben. Die drei Kinder absolvierten in den 1980er Jahren die Matura und besuchten den Haschomer Hatzair. Benyamin verließ die Familie nach einigen Jahren und lebt wieder in Israel.
In der Familie kursiert das Gerücht, dass er insgeheim auf der Suche nach seinem vermissten Vater gewesen war. So wie viele jüdische Menschen ist auch er jemand, der bis heute nicht weiß, was im Zweiten Weltkrieg mit seinen vermissten Verwandten geschehen ist. Sie wiederzufinden hoffen viele Überlebende bis an ihr Lebensende.
* Die Namen wurden von der Redaktion geändert, um die Familiengeschichte ohne Beschönigungen erzählen zu können.