Über die Rettung der bulgarischen Juden während des Zweiten Weltkrieges.
VON VLADIMIR DANOVSKY
Am 10. März 1943 standen in Bulgarien an mehreren Bahnhöfen Züge bereit – um Juden nach Polen in die Todeslager zu transportieren. Wenige Stunden vor der planmäßigen Abfahrt erreichte die Zuständigen ein Telefonanruf, der den Deportationsbefehl aufhob. Am Apparat soll, nach nie endgültig bestätigten Berichten, der bulgarische Zar Boris III. gewesen sein.
Auch zwei weitere Deportationsvorhaben, im Mai und August 1943, scheiterten. Letztendlich wurden alle in Alt- Bulgarien (Bulgarien in den heutigen Grenzen) lebenden fünfzigtausend Juden gerettet.
Diesem singulären historischen Ereignis – der Rettung der bulgarischen Juden – liegt eine bemerkenswerte Anzahl individueller Aktivitäten zugrunde. Einige davon: Der Erzbischof von Sofia hatte allen Juden die sofortige Taufe angeboten und Mitglieder der jüdischen Gemeinde in seinem Haus aufgenommen. Der Erzbischof von Plowdiw war über den Zaun eines Schulhofs geklettert, in dem die Juden seiner Stadt versammelt waren, und hatte der Regierung mitteilen lassen, sie solle ihn mitdeportieren. Der stellvertretende Parlamentsvorsitzende Dimitar Peschev (später „bulgarischer Schindler“ genannt) hatte gegen die vorgesehene Deportation Unterschriften eines Drittels der Regierungsmehrheit gesammelt.
Die Liste der mutigen Taten lässt sich um ein Vielfaches erweitern. Verschiedene Organisationen und viele einfache Bürger hatten bereits zuvor gegen die antisemitische Gesetzgebung und die daraus resultierende Diskriminierung der Juden protestiert. Sie alle waren nicht miteinander vernetzt, es war kein organisierter Widerstand. Alle setzten sich spontan und auf unterschiedliche Art und Weise für jüdische Freunde, Kollegen, Nachbarn, Mitmenschen ein. Es zeigte sich – ein äußerst seltener Fall – die Normalität des Guten.
„Stille Helden“
Das „bulgarische Wunder“ ist bis heute erstaunlich unbekannt. Man kann dies der Überfülle an Informationen über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zuschreiben. Doch scheint es noch tiefere Gründe dafür zu geben, die in unserem Umgang mit Geschichte liegen.
Es bedurfte der ausgefeilten Hollywood- Marketing-Maschinerie, um Mitte der 1990er Jahre durch den Film Schindlers Liste einen Mann weltbekannt zu machen, der viele Juden vor den Vernichtungslagern bewahrt hatte. Der schwedische Diplomat Raul Wallenberg, der in Ungarn Zehntausende rettete, ist bis heute nur Eingeweihten ein Begriff. Und noch bis vor kurzem wusste kaum jemand von den muslimischen albanischen Bauern, die aus Jugoslawien geflüchtete Juden versteckt hatten.
„Stille Helden“ heißt eine Gedenkstätte in Berlin, die dem deutschen Widerstand während der Nazi-Zeit gewidmet ist. „Die Stimme der Wahrheit ist leise“, schrieb bereits 1938 Joseph Roth in einem Artikel über den „Lautsprecher des Bösen“, Joseph Goebbels. Die Helden bleiben tatsächlich, auch im Nachhinein, leise. Sie alle können in punkto Bekanntheitsgrad niemals mit Himmler, Heydrich oder Eichmann, geschweige denn mit Hitler, Göring und Goebbels mithalten. Das Gute hat schlichtweg einen geringeren Marktwert. Hinzu kommt, dass in Westeuropa Geschichten mit positivem Ausgang wie Schindlers Liste unter dem Generalverdacht der Sentimentalität und der Verlogenheit stehen und nur der düstere Blick als wahrhaftig gilt.
In Bulgarien hingegen ist die Rettung der Juden ein Nationalheiligtum, moralischer Rettungsanker in bösen Zeiten, identitätsstiftendes Symbol des Guten. Allerdings hat auch dort der strahlende Leuchtturm, genannt Rettung, einen langen Schatten, und dieser verbirgt sich im Begriff Alt-Bulgarien.
Das Gute und das Böse in einem Bett
Nazi-Deutschland hatte nach der Besetzung von Griechenland und Jugoslawien die Gebiete des ägäischen Thrakien und des jugoslawischen Makedonien unter die Verwaltung des verbündeten Bulgarien gestellt. Die Juden in diesen neuen Gebieten – es waren mehr als elftausend – wurden deportiert. An der Grenze wurden sie deutschen Wachkommandos übergeben und von diesen weiter nach Polen, in die Todeslager, gebracht. Nur wenige von ihnen überlebten. Für den Transport bis zur Grenze war das bulgarische Kommissariat für jüdische Angelegenheiten zuständig. Waren die Bulgaren also mutige Retter – oder willige Vollstrecker?
Wie schmal manchmal die Grenze zwischen Gut und Böse ist, zeigt das Beispiel zweier Protagonisten dieser Geschichte: zum einen Boris III. von Sachsen-Coburg und Gotha, Zar aller Bulgaren, zum damaligen Zeitpunkt eine Art Alleinherrscher. Die bulgarischen Rassengesetze unterschrieb er persönlich, den Beitritt Bulgariens zum Dreimächtepakt sein Regierungschef. Und dennoch war es offensichtlich seine Anweisung, welche die Deportationen definitiv stoppte. Die Juden aus den neuen Gebieten konnte aber auch er nicht retten.
Nachdem alle drei Versuche, die Juden aus Alt-Bulgarien zu deportieren, gescheitert waren, lud Hitler Boris III. zum Gespräch in die „Wolfsschanze“ ein. Kurz nach seiner Rückkehr starb der Zar plötzlich. Gerüchte über eine Vergiftung sind bis heute weder bestätigt noch widerlegt. Es will scheinen, als habe er alles in seiner Macht Stehende getan, um die Juden vor dem ihnen zugedachten Schicksal zu bewahren und dafür möglicherweise mit dem Leben bezahlt.
Die zweite Protagonistin, Liljana Panitza, Sekretärin und engste Vertraute des pro-nazistischen Kommissars für jüdische Angelegenheiten, Alexander Belev, warnte die jüdische Gemeinde vor den drohenden Deportationen und informierte sie regelmäßig über die geheimen Pläne des Kommissariats. Ihr unter Gefahr für das eigene Leben begangener „Hochverrat“ im Namen der Menschlichkeit machte die Entstehung eines Widerstandes überhaupt erst möglich. Sie ist das schöne Gesicht der Rettung: eine Heldin, eine bulgarische Jeanne d’Arc.
Gleichzeitig war Liljana Panitza die heimliche Geliebte des Kommissars. Weil sie sein Versteck nicht verraten wollte, wurde sie nach dem Machtwechsel wochenlang von den Kommunisten verhört und starb schließlich, knapp 30 Jahre alt, an den Folgen der Folter. Ein verstörendes Phänomen: die leidenschaftliche Liebe zwischen der Retterin der Juden und deren schlimmstem Verfolger, das Gute und das Böse in einem Bett.
Der Zar und die einfache Sekretärin verkörpern in ihrer Widersprüchlichkeit nicht nur die historisch-politische, sondern auch die allgemein-menschliche, wenn man will, archaische Situation, die conditio humana.
Wunder der Humanität
Die Rettung der bulgarischen Juden bleibt ein Wunder der Humanität. Voraussetzung war allerdings ein Pakt mit dem Teufel. Nur der Status eines Verbündeten von Nazi-Deutschland ermöglichte Bulgarien eine gewisse Souveränität des Handelns. Dies hatte seinen Preis. „Die Bulgaren haben nicht nur die Juden, sondern auch die eigene Seele gerettet“, schrieb ein Sofioter Journalist vor kurzem. Einen Teil ihrer Seele haben sie dennoch verkaufen müssen – durch die Beteiligung an der Deportation der thrakischen und der makedonischen Juden.
Es fällt äußerst schwer, die Ambivalenz der menschlichen Natur und des menschlichen Handelns zu akzeptieren. Im Grunde wollen wir, dass alles so bleibt, wie in den Märchen: das Gute und das Böse messerscharf getrennt – und wir immer auf der richtigen Seite.
Hannah Arendt wurde für ihren Bericht Eichmann in Jerusalem und den im Untertitel geprägten Begriff der „Banalität des Bösen“ aufs Heftigste angegriffen, das Buch ist bis heute umstritten. Indes ging es ihr vor allem um eines: Eichmann hätte auch unser Nachbar, Kollege und Freund sein können. Und, als Erkenntnis noch schmerzhafter: Jeder von uns hätte unter gewissen Voraussetzungen ein Eichmann werden können. Nichts anderes meinte auch Thomas Mann mit seinem Essay „Bruder Hitler“.
Was Hannah Arendt und Thomas Mann mit Worten zum Ausdruck brachten, gelang Charlie Chaplin im Film Der große Diktator mit Maske, Mimik und Körpersprache. Sein Alter Ego, der Tramp mit dem kleinen Bärtchen – der sympathischste „kleine Mann“ der Welt – entdeckte plötzlich seinen Zwillingsbruder, sein Spiegelbild: Hitler. Das Gute und das Böse bleiben wohl auf ewig unzertrennlich und sehen sich oft zum Verwechseln ähnlich.