Das Judentum gilt als nicht besonders offen gegenüber Minderheiten innerhalb der eigenen Gemeinden. Wien ist da nicht anders. Wie geht es queeren und homosexuellen Menschen in Wien? Können sie in der Gemeinde offen mit ihrer Sexualität umgehen?
Von Mark E. Napadenski
Wer nicht gerade in der Pride-Metropole Tel Aviv lebt, hat damit nach wie vor oft ein Problem: queer und jüdisch zu sein. So auch in Wien. Obwohl sich linksgerichtete jüdische Jugend- und Studentenorganisationen gerne als tolerant präsentieren und gelegentlich auch Queer-Partys veranstalten, leiden dennoch viele Mitglieder der orthodox geprägten Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) unter struktureller Diskriminierung. Und diese geschieht nicht nur innerhalb der IKG und deren Institutionen, sondern auch im privaten Umfeld.
Vereinzelt lassen sich natürlich liberalere Positionen, etwa in Reformgemeinden, finden. Dennoch gilt das Judentum nicht als besonders offen gegenüber Minderheiten innerhalb der eigenen Gemeinden, es dominiert die grundsätzliche Ablehnung von Homosexualität. In der Orthodoxie, der sich auch die IKG zugehörig fühlt, ist diese religiös verboten. Das dient allerdings weniger als Leitfaden für die religiöse Praxis, sondern – trotz der sonst herrschenden Dissonanzen und Langzeitkonflikte zwischen der bucharischen und der aschkenasischen Community – der Belustigung der Mitglieder. Gleiches gilt anderen sexuellen Identitäten, Vorlieben, Orientierungen oder Geschlechterzuschreibungen. Neben der „Männlein-Weiblein“-Hegemonie findet innerhalb der Gemeinde kein anderer Lebensstil Platz. Manche predigen Toleranz, doch der Predigt folgen keine Taten.
Sanktionen und Belastung
Homosexuelle und geoutete Gemeindemitglieder sagen mehrheitlich: Intoleranz ist kein Alleinstellungsmerkmal des Judentums, sondern auch in anderen konservativ-religiösen Kreisen üblich. Im Alltag und vor allem zu Hause ist man freilich der Intoleranz der eigenen Gemeinde ausgesetzt.
„Ich werde dreifach diskriminiert: Erstens bin ich Jude, zweitens bin ich Buchare, drittens bin ich schwul“, berichtet David*: „Es ist nicht leicht, und man wird damit alleingelassen. Am liebsten hätten mich meine Eltern gleich nach der Matura in einen anderen Familienclan eingeheiratet. Es endet dann so, dass die Männer nach den ersten Ehejahren ins Puff gehen und die Frauen depressiv mit den Kindern zu Hause sitzen. So ein Leben kann ich mir nicht vorstellen. Häusliche Gewalt wird dabei ebenso totgeschwiegen wie die von der Heteronormativität abweichende Sexualität.“
Unsere Interviewpartner und -partnerinnen skizzieren einen Kreislauf, der es ihnen nicht ermöglicht, ihre Sexualität angstfrei innerhalb der Gemeinde auszuleben. Es wird mehrheitlich von gesellschaftlicher Sanktion und Ächtung gesprochen, mitunter gar von einem Verstoß aus der eigenen Familie. Benjamin erzählt von Lügengebäuden in turbulenten Jahren: „Nach meinem Coming-out innerhalb der Familie wurde mir erklärt, dass ich es auf keinen Fall offen zeigen darf – und überhaupt braucht es auch sonst keiner zu wissen. ‚Denk an deine Geschwister! Die Leute könnten glauben, dass etwas mit unseren Genen falsch ist.‘ Es hat einige Jahre gebraucht, wieder ein Verhältnis zu meinen Eltern aufzubauen, nachdem ich den Kontakt zu ihnen aufgrund der Kränkungen abgebrochen habe.“
Benjamin vermutet, dass die vermeintlich devianten Familienmitglieder oft einfach nach Israel abgeschoben würden – unter dem Vorwand, sie würden dort studieren: „Aber ich kann nicht nach Israel flüchten, um dort schwul zu sein. Ich bin ein Wiener Jude und möchte hier mit meinem Partner in der Gemeinde einfach glücklich sein. Dass wir im zweiten Bezirk wohnen, macht das Leben allerdings bis heute sehr schwer.“ In der Leopoldstadt müsse er sich auf der Straße anders verhalten, „aber ich möchte meinen Partner umarmen und mit ihm Händchen halten können, ohne ständig über die Schulter schauen zu müssen, ob jemand aus dem Bekanntenkreis in der Nähe ist.“ Mit der Zeit lerne man zwar, mit den Blicken umzugehen, „dem Getuschel ist man aber trotzdem jeden Tag ausgesetzt. Das ist psychisch sehr belastend für mich!“
Familiäre Gewalt
Ähnliche Erfahrungen macht ein homosexueller Bekannter von Benjamin: „Ich arbeite seit vielen Jahren in einer orthodox-jüdischen Einrichtung in Wien, und noch immer werden konstant Witze gemacht. Dabei kann ich mich persönlich sehr gut verbal wehren, aber das Arbeitsumfeld ist von toxischen Männern und Frauen geprägt, die an einem klassischen Familienbild festhalten. Es ist kein Ort, an dem ich offen sein kann. Und meinen Brüdern wird gesagt, sie sollen sich endlich eine ordentliche Frau suchen und keine Schickse. Meinen Freund in dieses familiäre Umfeld mitzunehmen, ist für mich wirklich keine Option.“
Tatsächlich ist die Zahl der geouteten Personen innerhalb der Gemeinde äußerst gering. Statistisch scheint dies widersprüchlich zu sein: Eine Umfrage von Dalia Research (2016) hat ergeben, dass 6,2 Prozent der österreichischen Bevölkerung sich entweder als homo- oder bisexuell identifizieren. Umgelegt auf die IKG mit zirka 6800 Mitgliedern wären das 422 Personen.
Benjamin beklagt auch den Mangel an sexueller Aufklärungsarbeit. Weder gibt es eine eigene Anlaufstelle für Juden, noch wird offen über die psychische Belastung der betroffenen Männer und Frauen gesprochen. Alle diesbezüglichen Versuche sind bisher gescheitert. Organisationen wie Yachad in Deutschland, eine Vereinigung schwuler, lesbischer und bisexueller Jüdinnen und Juden, gibt es hierzulande nicht. Dies erschwert die Kommunikation von Betroffenen untereinander. Doch der Gesprächs- und Aufklärungsbedarf ist groß: für Betroffene und auch für Angehörige. Berichten zufolge erleben Personen aufgrund ihres Outings auch Gewalt innerhalb der Familie. Das sind Probleme, die nicht nur – aber wohl auch – im religiösen Dogma einer sehr konservativen Gemeinde wurzeln. Das starke soziale Gefüge innerhalb der kleinen Gemeinde Wiens verstärkt deshalb den Druck auf junge queere Personen. Oftmals bleibt als einziger Ausweg, sich von der Familie komplett zu distanzieren.
Wie Yael entscheiden sich deshalb auch viele dafür, ihre Sexualität nicht zu thematisieren: „Mich zu outen kommt für mich sowieso nicht in Frage. Ich muss ein Doppelleben führen, um das Bild meiner Familie innerhalb der Gemeinde nicht zu verschandeln. Es ist schrecklich, doch die Leute leben lieber in einer Lüge, als tolerant zu sein!“
* Alle Namen wurden auf ausdrücklichen Wunsch der Interviewpartner geändert.