Die Kunst der kurzen Laute

Von Erwin Javor

Wie Sie mittlerweile hoffentlich wissen, auf Jiddisch kann man sich sehr differenziert ausdrücken. Dafür braucht man nicht einmal viele Worte. Mehr als das, es genügen sogar ganz kurze Laute. Ich habe im NU (sic!) schon einmal über „Nu?“, auch über „O!“ geschrieben, aber noch nicht über das „Oj!“ Es ist Zeit.
Einen Moment noch. Wenn ich mir es so recht überlege, ich kann es doch noch nicht lassen mit dem „O!“ Ich serviere noch einen Nachschub.

O!
Ein Mann sitzt im koscheren Restaurant und beschwert sich griesgrämig beim Kellner: „Kosten Sie die Suppe!“ Der Ober, gelangweilt, desinteressiert, in anderen Worten perfekt der ortsüblichen Kundenorientierung entsprechend: „Ist sie versalzen? Zu wenig gesalzen? Zu heiß? Zu kalt? Zu suppig??!“ Darauf der Gast wütend und laut: „Machen Sie sich nicht lustig über mich! Kosten Sie die Suppe!!“ Sagt der Ober: „Und wo ist der Löffel?“ – „O!“

Oj!
Ein Jude steht im Schwimmbad am Trampolin, am höchsten aller Sprungbretter, und schaut konzentriert ins kalte Wasser. Seine Frau steht bewundernd daneben. Und steht. Und steht. Nach einer Weile wundert sie sich etwas über ihren Helden: „Nu?“ Er zögert noch immer und schaut weiter angestrengt in die Tiefe. Nach einigen Minuten erkennt sie blitzartig, der Held muss angespornt werden. Mit Überzeugung und voller Lautstärke geht sie ans Werk: „Nu!!“ Nichts geschieht. Langsam beginnt sie ihren Heldenbegriff zu überdenken und beginnt sich eher Sorgen zu machen. Zart streift sie ihm über den Arm und fragt liebevoll: „Nu?“ Das kann er nun wirklich nicht auf sich sitzen lassen und springt flugs ins wirklich sehr, sehr kalte Wasser. Ein gequältes, schmerzerfülltes „Oj!“ schallt unüberhörbar durch das Schwimmbad. Nach einer Weile, als sein Körper den Schock überwunden hat und die angestrebte Wunschtemperatur zu empfinden beginnt, macht sich Stolz und Wohlbehagen in dem Athleten breit, und er seufzt zufrieden, lang und wohlig gedehnt: „O!“

Man kann sich also auf sehr schlichte Weise verständlich machen. Wie verständlich kommuniziert man dann erst unter Verwendung eines umfangreicheren Vokabulars, meinen Sie? Weit gefehlt:

Kapure
In manchen orthodoxen Gemeinden ist seit dem Mittelalter „kapure schlugn“ Brauch. Das bedeutet, dass man zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur ein Huhn über dem Kopf eines Sünders schwingt und eine Bruche (einen Segensspruch) sagt, woraufhin, so glaubt man, dessen Sünden auf das Tier übertragen werden – gewissermaßen eine frühe Form der Psychoanalyse. Das Geflügel hat dann eine weitere Karriere als Festtagsbraten vor sich. In weniger orthodoxen Kreisen wird der selbe Zweck praktischer, nämlich mit einer Geldspende, abgewickelt. „Ojf kapures“ bedeutet aufgrund dieses Aberglaubens so etwas wie „zu nichts gut“ oder „völlig überflüssig“.

Völkerverständigung
Ein ausschließlich Jiddisch sprechender Mann steht vor Gericht und wird beschuldigt, ein Pferd gestohlen zu haben. Der Dolmetscher fragt im Auftrag des Richters: „Angeklagter, haben Sie ein Pferd gestohlen?“ – „Ech hob geganvet a Pferd?“ (Sie glauben ernsthaft, dass ich ein Pferd gestohlen habe?) Der Dolmetscher dreht sich zum Richter und übersetzt wörtlich: „Ich habe ein Pferd gestohlen.“ – „Warum haben Sie ein Pferd gestohlen?“, will der Richter wissen. „Ech hab geganvet a Pferd? Ech darf a Pferd?“ (Sie glauben ernsthaft, dass ich ein Pferd gestohlen habe? Wieso um Himmels Willen glauben Sie, dass ich ein Pferd brauche?!) Der Dolmetscher übersetzt wieder geflissentlich Wort für Wort: „Ich habe ein Pferd gestohlen. Ich brauche ein Pferd.“ Der Richter versteht kein Wort. „Wozu haben Sie das Pferd gebraucht?“ Der Angeklagte schreit aufgebracht, immer fassungsloser: „Ech hab geganvet a Pferd? Ech darf a Pferd? Ech darf a Pferd oif kapures!“ (Ein Pferd ist für mich komplett überflüssig!). Der Dolmetscher: „Ich habe ein Pferd gestohlen. Ich brauche ein Pferd. Ich brauche ein Pferd für ein Sühneopfer.“ Der Jude erhielt mildernde Umstände, weil er geständig war und wurde zu nur fünf Jahren Kerker wegen schweren Diebstahls verurteilt.

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