Mit drei Jahren kam ich in Wien an. Also eigentlich kam ich zuerst mit dem Schiff in Triest und erst dann mit dem Zug in Wien an. Aber bleiben wir bei Wien, denn da sollte ich ja schließlich auch bleiben.
Von Harry Bergmann
Die drei Jahre davor war ich zu beschäftigt, um zu reisen. Ich musste zuerst in Haifa geboren werden. Kaum aus der Geburtenstation entlassen, musste ich auch schon meine Eltern unterstützen. Nicht finanziell, denn ich hatte noch weniger als sie, und sie hatten schon fast nichts. Ich würde diese Unterstützung mehr als „familiären Beitrag“ bezeichnen. Und der bestand darin, meine Mutter jeden Tag zum Strand zu begleiten. Anfangs im Kinderwagen liegend, später dann stolpernd an ihrem Arm zerrend. Ich sollte das vielleicht erklären: Mein Vater war Taxichauffeur, genauer gesagt Nachtfahrer. Also musste er am Tag schlafen. Da er einen sehr unruhigen, von Albträumen durchgeisterten Schlaf hatte – ein Mitbringsel aus den KZs Plaszow und Auschwitz – musste ich tagsüber aus der Wohnung entfernt werden. Ihm zuliebe, aber auch mir zuliebe, da er oft aus dem Schlaf aufschreckte und schrie, was wiederum dazu führte, dass ich schrie. Also eigentlich meiner Mutter zuliebe.
Ich hatte es nicht immer leicht, als kleiner Staatsbürger eines kleinen Staates, der gerade einmal zwei Jahre älter war als ich. Das lag nicht so sehr an mir, sondern mehr an der Situation dieses jungen Staates, der sich eigentlich noch in der Gehschule befand, aber durch die unmittelbare Umgebung in seiner gerade erst begonnenen Bewegungsfreiheit ziemlich eingeschränkt war. Diese – nennen wir sie – Geburtsfeinde, das ist das Gegenteil von Geburtshelfern, waren Syrien, Libanon, Jordanien und Ägypten, die Israel argwöhnisch umzingelten. Die einzige Hilfe, die sie ihrem kleinen Nachbarn angedeihen hätten lassen, wäre ein freies Geleit ins Mittelmeer gewesen, dorthin, wo sie alle verdammten Zionisten ertränken wollten. Da sie daran aber schon im Jahre 1949 kläglich gescheitert waren, obwohl sie es gleichzeitig von allen Seiten versucht hatten, war die Stimmung in diesem Teil der Welt eher als „mau“ zu bezeichnen. An dieser miesen nachbarlichen Stimmung hat sich übrigens bis heute nichts geändert. Meiner Stimmung tat das aber keinen großen Abbruch. Ich war fidel. Also nicht kreuzfidel, aber davidsternfidel.
Wie ich später am eigenen Leib erfahren musste, waren der Taxifahrer und seine Frau, also meine Eltern, nicht so fidel. Das lag vor allem daran, dass sich Holocaustüberlebende ihren Empfang im Heiligen Land ganz anders vorgestellt hatten. Sie gingen davon aus, dass die Juden, die schon seit vielen Jahren, vielleicht sogar seit Generationen, in Palästina lebten oder es vor dem Krieg gerade noch hingeschafft hatten, ihre Glaubensbrüder und -schwestern, die dem Nazi-Horror mehr tot als lebendig entkommen waren, fürsorglich in die Arme schließen würden. Sie hatten nicht damit gerechnet, zwar auf Juden, aber auf einen völlig anderen Menschenschlag von Juden zu treffen. Junge, braungebrannte, kraftstrotzende, lebenshungrige Pioniere und Pionierinnen, die damit beschäftigt waren, die Wüste in ein blühendes Land zu verwandeln, das sie unter Einsatz ihres Lebens jederzeit und gegen jeden verteidigen würden. In Wahrheit wussten sie mit dem traurigen Rest der Opferlämmer nicht wirklich etwas anzufangen. Im Gegenteil, sie genierten sich für sie und wollten diesen osteuropäischen Spiegel gar nicht vorgehalten bekommen. Jenen Spiegel, den Joseph Roth im Vorwort zu Juden auf Wanderschaft so beschreibt: „Der Verfasser hegt die törichte Hoffnung, dass es noch Leser gibt, vor denen man die Ostjuden nicht zu verteidigen braucht; Leser, die Achtung haben vor Schmerz, menschlicher Größe und vor dem Schmutz, der überall das Leid begleitet.“
Vom Regen in die Traufe konnte man nach Auschwitz natürlich nicht sagen, aber das Gelobte Land, wo Milch und Honig fließt, war es für die dem KZ Entronnenen wohl auch nicht.
Ich war ungefähr zwei Jahre alt, da muss es zu diesem Gespräch zwischen meinen Eltern gekommen sein, das mein Leben veränderte. Wesentlich veränderte. Vielleicht waren es auch mehrere Gespräche – ich weiß es nicht, ich war ja nicht dazu eingeladen –, jedenfalls stand am Ende ein Entschluss fest. Mein Vater fährt nach Wien, um zu schauen, ob er dort für uns drei nicht eine bessere Zukunft finden könne als die, die uns in Israel bevorstehen würde. In diesem letzten Satz fehlt das wichtigste Wort. Das Wort „zurück“. Mein Vater fährt nach Wien z-u-r-ü-c-k.
Er war in Wien geboren und schaffte es gerade einmal bis in die 6. Klasse des Amerling-Gymnasiums im 6. Bezirk, aus dem er mit hohem Bogen hinausflog. Das wäre unter Umständen auch aufgrund seiner fragwürdigen schulischen Leistung passiert, nur man schrieb das Jahr 1938 und der Grund, warum man damals als jüdischer Schüler, auch wenn man Klassenbester war, die Schule verlassen musste, sah haargenau so aus wie ein Hakenkreuz. Es war die Zeit, in der Juden mit Zahnbürsten das Trottoir reinigen mussten, und sich das goldene Wienerherz darüber königlich amüsierte.
Als hätte dieses Wiener Souvenir keine Bedeutung mehr, nahm der Taxifahrer ein Schiff und fuhr zum finstersten Punkt seines Lebens zurück, um ausgerechnet dort etwas Licht für sich und seine Familie zu finden. Bevor er ging, sagte er noch: „Ich versuche es und wenn ich sehe, dass es etwas werden kann, dann kommt ihr nach, wenn nicht, komme ich wieder zurück.“ Und so kam es, wie es nie hätte kommen dürfen. Einige Monate später wurde ich nach Wien verschleppt. Legal, aber verschleppt.
Wien im Jahre 1954 war von allem Anfang an ein Ort, an dem man nicht sein will. Ein Ort, an dem zumindest ich nicht sein wollte. Fast alle Häuser waren dunkelgrau. Der Krieg pickte noch an den Fassaden. Wenn man durch das große, schmutzig-grüne Eingangstor das Haus betrat, in dem meine Eltern und ich in Untermiete wohnten, erhoben sich etwa zwanzig breite Stufen, die zu einem kleinen Plateau führten. Das war das Erdgeschoss, das aber eigentlich kein Erdgeschoss, sondern schon mehr ein Mezzanin war, der aber wiederum einen Stock höher angeschrieben war. Wer sollte sich da auskennen, vor allem als kleiner, verschleppter Israeli. Jedenfalls war in diesem Erdgeschoss die Wohnung der Hausmeisterin und genau daneben war eine Nische in der Wand, in der eine mir höchst seltsam anmutende Figur stand. Lange, rötliche Haare, Bart, wallendes Gewand mit einer Körpersprache, die ich am ehesten als „etwas theatralischen Gestus“ bezeichnet hätte, wenn ich zu meinem Hebräisch auch noch ein paar Brocken Latein hinzugefügt hätte. Ich entwickelte eine verhaltensauffällige Beziehung zu diesem Mann. Sobald ich ihn sah, begann ich zu singen. Auf hebräisch.
Ich sang übrigens nicht nur hebräisch, ich sprach auch nur mehr hebräisch. Ich weigerte mich von einem Moment zum anderen, deutsch zu sprechen. Zuhause – damals wusste ich noch ganz genau, wo mein Zuhause war, nämlich Israel – sprach ich ausschließlich deutsch. Auch meine Eltern sprachen untereinander deutsch, außer wenn ich sie nicht verstehen sollte, dann sprachen sie polnisch. Die KZ-Sprache. Seit meiner Ankunft in Wien kam kein deutsches Wort mehr über meine Lippen.
Günter Grass hatte seinen berühmten Roman Die Blechtrommel noch nicht geschrieben, und ich konnte durch meinen Gesang auch nicht Glas zerspringen lassen wie die zentrale Romanfigur Oskar. Aber der gleichaltrige Oskar und ich hatten etwas gemeinsam. Uns gefiel nicht, was sich um uns herum abspielte, und wir flüchteten in eine Art Anarchie. Er weigerte sich, zu wachsen und ich weigerte mich, die Sprache zu sprechen, mit der befohlen worden war, meine gesamte Familie auszurotten.
Irgendwann einmal kapitulierte ich und sprach wieder deutsch. Mit jedem deutschen Satz verschwand ein kleiner Teil meines Hebräisch und damit ein Teil von Israel bis der Ort meiner Geburt nur mehr zu einem Zufall, zu einer Laune der Biografie des Taxifahrers und seiner Frau wurde.
„Wo bist denn Du her?“ – „Ich bin in Haifa geboren.“ – „Haifa? Wo is des?“ – „In Israel.“ – „Aha, san durt unten net nur Juden?“ – „Ja, ich bin ja auch ein Jude.“ – „Schaust gar net aus wie aner.“ – „Wie schaut denn einer aus?“ – „Na, net so wie Du!“ Aus diesem kleinen Dialog lernen wir dreierlei. Erstens, dass ich „unten“ geboren wurde. Das kann man kompassnadelmäßig, aber auch im Sinne der immer – vorzugsweise gegen sogenannte „Zuagraste“ – nach unten tretenden Austro-Gesellschaft verstehen. Zweitens, dass ich nicht ausgesehen habe wie eine Stürmer-Karikatur. Und drittens, dass mein Deutsch beziehungsweise das Deutsch, dem ich im Klassenzimmer und im Schulhof ausgesetzt war, nicht das Deutsch von Goethe und Schiller war.
Ich muss einschränkend sagen, dass Wien sich gar nicht so judenfeindlich präsentierte. Zumindest nicht direkt ins Gesicht. Andererseits, was ist in Wien schon „direkt ins Gesicht“? Es lief mehr nach dem Motto „der Jude, das unbekannte Wesen“ ab. Vergangenheitsbewältigung nach Art des Hauses: zuerst ausrotten und dann so tun, als ob es hier in Wien niemals Juden gegeben hätte. Das erinnert an den sattsam bekannten Witz, in dem ein Mann, der seine Eltern ermordet hat, vor Gericht mildernde Umstände erbittet, weil er Vollwaise ist.
In Wien war ich zeitlebens ein Teil einer Minorität. Nicht, dass mir das etwas ausgemacht hätte. Im Gegenteil, es hat mir das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein. Dass einige – leider nicht wenige – in meiner Umgebung mich tatsächlich als etwas Besonderes, nämlich besonders Abzulehnendes, gesehen haben, ist der Preis, den man bezahlen muss, wenn man in einem Land lebt, zu dem der Antisemitismus genauso untrennbar gehört wie die Alpen. Aber alles Schlechte hat auch etwas Gutes. Man lernt von klein auf, sich für etwas zu engagieren, für etwas zu kämpfen, sich gegen etwas zur Wehr zu setzen.
Es muss rund um meine Bar Mizwa gewesen sein, also 1964, als ich endlich meinen ersten Verwandten entdeckte. Es war in Baden bei Wien. Genauer gesagt am jüdischen Friedhof in Baden bei Wien. Und dass ich ihn „entdeckt“ habe, ist eine der vielen kleinen Übertreibungen, die ich so gerne mache. Es war natürlich der Taxifahrer, der mich zum Grab seines Großvaters mütterlicherseits, also meines Urgroßvaters, führte. Er war Rabbiner in Baden und hatte angeblich eine ganz besondere Fähigkeit. Er konnte einen hebräischen Text – man schreibt Hebräisch von rechts nach links – mit der rechten Hand schreiben und gleichzeitig die deutsche Übersetzung – also von links nach rechts – mit der linken Hand schreiben. Da ich so dankbar war, endlich einen Verwandten zu haben, wollte ich diese Geschichte nicht anzweifeln, obwohl sie mir schon recht zirkusmäßig vorkam. Ich beschloss, zumindest die Gleichzeitigkeit des beidhändigen Schreibens – von rechts nach links und von links nach rechts – aus der Geschichte zu streichen. Meinem Vater sagte ich das natürlich nicht, schließlich veredelte ein Wunder-Rabbiner unsere Familiensaga um vieles mehr, als ein ganz normaler Rabbiner.
Oft habe ich mich gefragt, warum der Taxifahrer bis nach meiner Bar Mitzwa gewartet hat, um mich zum Friedhof in Baden mitzunehmen. Heute, fast sechzig Jahre danach, glaube ich zu wissen, was er sich dabei gedacht haben könnte: „Du wirst noch oft genug hierherkommen, hierherkommen müssen.“ Wenn er das tatsächlich gedacht hat, wusste er nicht, wie recht er damit hatte.
Jedes Mal, wenn ich das Wort „Taxifahrer“ schreibe, befürchte ich für einen Moment, dass das meinem Vater gegenüber inakzeptabel respektlos ist. Ausgerechnet meinem Vater gegenüber, dem größten Helden, den ich je hatte. Er war der fescheste, jüngste und lustigste Vater. Das sage ich nicht einfach so dahin, sondern kann jederzeit Zeugen dafür aufrufen. Alle meine Freunde – ich rede jetzt von den jüdischen Freunden – hätten liebend gern so einen Vater gehabt. Die anderen Väter, ihre Väter, waren alte Väter. Kein Wunder, ein Jahr im Konzentrationslager zählt viele Jahre. Man muss sich einen Holocaustüberlebenden als anderes Wesen vorstellen. Auf den ersten Blick ein Mensch wie andere auch – vielleicht ungewöhnlich alt für sein oder ihr Alter – auf den zweiten Blick ein Geist, der in der Nacht von anderen Geistern heimgesucht wird, mit Schuldgefühlen den Vergasten, Erfrorenen, Verhungerten, Erschossenen gegenüber. Überleben als Schuld gegenüber den Toten.
Wen, wenn nicht Elie Wiesel sollte man hier zu Wort kommen lassen: „Die einen sagen, Hiob hat sehr wohl gelebt, nur sein Leiden ist eine rein literarische Erfindung. Dem halten andere entgegen: Hiob hat niemals gelebt, aber er hat sehr wohl gelitten.“ Wie mein Vater den Holocaust so überlebt hat, wie er ihn überlebt hat, also eben unbeschadeter als andere, kann ich nicht sagen. Helden und alles um diese Helden herum wird nicht hinterfragt, Helden werden einfach verehrt.
Nicht immer hielt ich mich an diese Regel. Wir hatten wieder einmal eines dieser Gespräche, in dem ich ihm zum Vorwurf machte, dass er Israel verlassen hatte, um ausgerechnet dorthin zurückzugehen, wo jüdisches Leben ausgelöscht worden war und sich der Antisemitismus auch weiterhin als offensichtlich chronisches und vererbbares Leiden festgenistet hatte. Es ging ja schließlich nicht nur um sein Leben, sondern auch um meines. Da sagte er: „Wenn ich damals in Israel eine Karriere als Taxifahrer gemacht hätte, dann wäre ich ja geblieben.“ Ich fragte etwas sarkastisch: „Papa, was, wenn ich fragen darf, ist eine Karriere als Taxifahrer?“ Er: „Das kann ich dir leicht beantworten. Ich war Nachtfahrer. Wenn ich eine Chance gesehen hätte, Tagfahrer zu werden, dann wäre ich geblieben.“ Ja, so ist das mit den Kreuzungen im Leben. Auch ein Taxifahrer kann sich irren, wenn es um richtiges oder falsches Abbiegen geht.
Im Juni 1982 ist die Karriere des Taxifahrers beendet. Er stirbt. Nicht einmal 60-jährig. Blasenkarzinom. Von gesund – nicht pumperlg‘sund, denn pumperlg‘sund wird man nach sechs Jahren im Konzentrationslager nicht mehr – bis Diagnose, bis Operation, bis offensichtlich nachlässige postoperative Behandlung, bis Lungenembolie, bis von einer Sekunde auf die andere tot, in nicht einmal zwei Wochen. Wenn man die Jahre im Konzentrationslager, die Jahre, die er sich in der Sowjetzone durchschlagen musste, wo er blieb, nachdem er von der Roten Armee in Auschwitz befreit wurde, die Jahre, die er brauchte, um das im Krieg Erlebte halbwegs zu verarbeiten und nicht täglich Angst haben musste, dass es sein letzter Tag sein würde, die Jahre, die er in Israel unglücklich war, das halbe Jahr, das er durch einen Schlaganfall halbseitig gelähmt war, wenn man also all diese Jahre abzieht, dann lebte er nur gute 45 Jahre. Er hinterlässt eine Frau und einen mittlerweile 31-jährigen Sohn mit seinen zwei Pässen – dem österreichischen und dem israelischen –, der seinen Lebensmittelpunkt, wie das in der Amtssprache so schön heißt, immer noch in Wien hat.
Aber ist das wirklich mein Lebensmittelpunkt? Was bedeutet Lebensmittelpunkt überhaupt, wenn man das Geographische und das Demographische, wie Wohnort oder Ort der schulischen Ausbildung, oder Ort der beruflichen Tätigkeit, oder Ort des zuständigen Finanzamts, oder Ort der Hochzeit, oder Ort des zuständigen Standesamts, oder Geburtsort der Kinder und die Adresse des Magistrats, das die Geburtsurkunden ausgestellt hat, weglässt?
Was den Wohnort betrifft, ist übrigens die Definition meines Lebensmittelpunkts ab dem Jahre 2000 noch etwas komplexer geworden. Denn seit damals habe ich zwei Wohnsitze, einen in Wien und einen in Herzliya Pituach. Das liegt etwa zwanzig Kilometer nördlich von Tel Aviv. Letzteren Wohnsitz habe ich Jörg Haider zu verdanken oder besser gesagt seinem politischen Aufstieg oder noch besser gesagt, den Befürchtungen meiner Frau über seinen politischen Aufstieg und der damit verbundenen fraglichen Zukunft für Juden in Österreich, oder am besten gesagt, einer seiner Aschermittwoch-Reden, in der er den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde, Ariel Muzicant, verhöhnte, indem er meinte, er versteht nicht, wie einer der Ariel heißt, so viel Dreck am Stecken haben kann. Dieser Satz hätte ihm in einem Bierzelt im Jahre 1933 das gleiche begeisterte Gegröle des Publikums eingebracht und daher gab es – und wird es seit 1933 immer geben – unbedeutendere Gründe auszuwandern oder zumindest einen zweiten Lebensmittelpunkt in Israel zu suchen.
Ist der Lebensmittelpunkt dort wo man hingehört, wo man dazugehört? Aber wie weiß man, ob man irgendwo hingehört und wer bestimmt, ob man dazugehört? Ist er das, was alle so gern Heimat nennen? Wenn er wirklich Heimat ist, dann weiß ich nicht, wo mein Lebensmittelpunkt ist, denn ich weiß nicht, wie sich Heimat anfühlt, anzufühlen hat. Ist der Lebensmittelpunkt eine Destination, die man freudiger ansteuert als andere Destinationen? Solange ich darüber keine Klarheit habe, werde ich die Frage nicht beantworten können, die mich seit geraumer Zeit beschäftigt, ob nämlich der Flug Wien – Tel Aviv für mich ein Hin- oder ein Rückflug ist?
Ist der Lebensmittelpunkt paradoxerweise dort, wo man die Ewigkeit verbringen möchte, was in meinem Fall sehr präzise definiert werden kann? Es ist der gleiche Friedhof in Baden bei Wien, auf dem der beidhändig schreibende Urgroßvater liegt, ebenso wie mein geliebter Vater, ebenso wie meine geliebte Mutter und ebenso wie meine geliebte Frau, mit der ich 35 Jahre verheiratet war und die ich nach jahrelangem Kampf an die gleiche heimtückische Krankheit verloren habe, wie den Taxifahrer, nämlich Krebs.
Das alles ist genauso richtig, wie es falsch ist. Ich muss das Wort Lebensmittelpunkt ganz anders betrachten, sonst komme ich nie zu einer Antwort, ob ich ein Auslandsösterreicher in Israel oder ein Auslandsisraeli in Österreich bin. Ich versuche es einmal so: Lebensmittelpunkt ist dort, wo man die beste Ausgabe von sich selbst ist. Könnte ich jetzt in Israel sitzen und einen Beitrag zu einem israelischen Buch mit dem Titel „Wien! Was geht mich das an?“ schreiben? Natürlich nicht, weil mir die Sprache fehlt. Ohne Sprache ist man nichts und schon gar nicht die beste Ausgabe von sich selbst. Wäre ich damals nach Israel gegangen, um meinen Militärdienst zu absolvieren, dann wäre ich wohl geblieben. Alles wäre anders gekommen. Heute wäre ich ein in Israel geborener Israeli, der in Österreich zur Schule gegangen ist, über einen sehr guten aber nicht allzu raffinierten hebräischen Sprachschatz verfügt – weil eben die Schuljahre fehlen – und manchmal im mittlerweile ungeübten Deutsch nach dem richtigen Vokabel sucht. So aber verfüge ich über ein einigermaßen anwendbares Deutsch und schreibe meinen persönlichen Beitrag zu einem Buch Israel. Was geht mich das an?
Vielleicht ist das genau der Grund, warum mein Vater 1953 nach Wien zurückgekehrt ist, weil er zu seiner Sprache zurückwollte. Zu seiner Muttersprache. Das einzige, was ihm die Nazis, neben seinem Leben, nicht weggenommen haben. Und wenn es so war, dann verstehe ich heute, warum auch mein Lebensmittelpunkt in Wien ist. Ich würde gern hinzufügen: trotzdem. Trotzdem ich es mir nicht ausgesucht habe. Trotzdem ich zu einer immer wieder angefeindeten Minorität gehöre. Trotzdem oder gerade deshalb.
Er hat das alles vorhergesehen, der Taxifahrer.
Der Essay ist in gekürzter Fassung dem von Erwin Jabor und Stefan Kaltenbrunner herausgegebenen Buch „Israel. Was geht mich das an?“, Edition mena watch, entnommen.