Das Bild, dass der Koran von den Juden zeichnet, ist ein ambivalentes. Betrachtet man den jeweiligen Entstehungszeitraum der verschiedenen Passagen, so zeigt sich deutlich, dass sich das Verhältnis des Propheten zu den Juden mit seiner eigenen Rolle wandelte.
Von Abdel-Hakim Ourghi
Unzweifelhaft kommt der mekkanischen Verkündung (610–622 n. d. Z.) der Macht des Wortes – in Form eines mit den Menschen geführten Dialogs – eine zentrale Rolle zu. Das dialogorientierte Wort galt nicht nur Gegnern unter mekkanischen Paganen, sondern auch Juden. Das kann man als Zeichen der Toleranz sehen, aber auch so interpretieren, dass sich der Prophet in der Defensive befand und sein Überleben sichern musste, bis er nach Medina emigrierte. Dort wurde aus dem Verkünder einer neuen Religion ein Staatsmann an der Spitze eines Gemeinwesens. Selbstverständlich hatte der Prophet nun zwei Ziele vor den Augen: Erstens, dass arabische Paganen, Juden und Christen seine Berufung als Gesandter Gottes und Stifter einer neuen monotheistischen Religion anerkennen; und zweitens, dass sie sich zum Islam bekehren lassen. Als diese Erwartungen enttäuscht wurden, wandelte sich seine Haltung besonders gegenüber den Juden.
Bezeichnung der Juden
Der Koran macht zur Bezeichnung der Juden von vier verschiedenen Begriffen Gebrauch. Je nach historischem Kontext haben diese entweder positive oder negative Konnotationen. Der am häufigsten verwendete Terminus ist jener der „Leute der Schrift“ („ahl al-kitāb“), der nicht nur die Juden, sondern auch die Christen bezeichnet, die Zeitgenossen des Propheten in Mekka und Medina waren. Nur ein einziges Mal wird als Synonym dazu der Begriff „Leute der früheren Mahnung“ („ahl aḏ-ḏikr“) verwendet.
Der zweite Begriff, der insgesamt 43 Mal sowohl im mekkanischen als auch im medinensischen Koran vorkommt, ist „Söhne“ bzw. „Kinder Israels“ („banū isrāʼil“). Er bezeichnet die Nachkommen Israels in der biblischen Epoche und wird nur im Kontext der koranischen Prophetenerzählungen, wie etwa der Geschichte über Moses, verwendet.
Drittens kommt der Terminus „die Juden“ („al-yahūd“) im gesamten Koran neun Mal vor. Hierbei handelt es sich um Juden der nachbiblischen Epochen und vor allem um diejenigen, die dem Propheten in Mekka und Medina selbst begegneten. Sie werden meistens pejorativ dargestellt.
Der vierte und letzte Terminus „die dem Judentum angehören“ („al-ladīna hādū“) kommt insgesamt zehn Mal im Koran vor. Die arabisch-muslimische Koranexegese ist sich nicht darüber einig, ob es sich dabei um Araber handelt, die zum Judentum konvertierten, oder allgemein um alle Juden, die das Judentum praktizieren. Auch über sie finden sich im Koran sowohl positive als auch negative Darstellungen.
Anerkennung der jüdischen Religion
Es gibt Passagen, in denen die Religion der Juden neben anderen Buchreligionen anerkannt wird. So heißt es an zwei Stellen im Koran wortgleich, denen, die an Gott und das Jenseits glaubten, stehe ein Lohn bei Gott zu und sie bräuchten wegen des Jüngsten Gerichts keine Furcht haben (Koran 2:62; 5:69). Beide Verse stammen bereits aus der späteren, medinensischen Periode, in der der Prophet als Nachbar in unmittelbaren Kontakt mit Juden kam. Die positive Darstellung der Söhne Israels zeigt sich auch in der ersten in Medina offenbarten Sure, in der Gott sie erinnert, sie sollten seiner Gnade, die er ihnen erwiesen habe, gedenken und daran denken, dass Er sie unter anderen Menschen in aller Welt auserwählt habe. Es wird also selbst der Status der Juden als auserwähltes Volk Gottes im Koran anerkannt!
Dialog mit den Juden
Als Gemeinsamkeit zwischen allen monotheistischen Religionen wird der Glaube an den einen Gott betont; sowohl Juden und Christen als auch die Anhänger des Propheten werden aufgefordert, in einen Dialog miteinander einzutreten. Die Muslime sollten den Leuten der Schrift mitteilen, dass sie an ihre eigene, aber auch an die zu ihnen herabgesandte Offenbarung glaubten. Das mündet in die klare Aussage: „Unser und euer Gott ist einer.“ Und in Koran 3:64 werden die Leute der Schrift aufgefordert, anzuerkennen, dass Muslime wie auch sie selbst Gott allein dienten. In beiden Passagen wird die Betonung der Gemeinsamkeiten verknüpft mit der Aufforderung in einen Dialog miteinander zu treten. In einer der letzten in Mekka offenbarten Suren werden der Verkünder des Islam und die Mitglieder seiner Gemeinde explizit dazu aufgefordert, mit den Leuten der Schrift nie anders als auf eine möglichst gute Art und Weise Gespräche zu führen. Bemerkenswert ist hier die Verwendung des Imperativs, der den konstruktiven Dialog des Propheten mit Christen und Juden anordnet. Das Ziel der Verkünder war es, durch den Dialog sich erstens mehr Gehör für die koranischen Botschaften zu schaffen, und zweitens mehr Anhänger unter den Juden und Christen zu gewinnen.
Aufruf zur Bekehrung
Die Betonung der Gemeinsamkeiten dient letztlich dem Aufruf zur Bekehrung zur neu verkündeten Religion. Dazu gehört, dass im Koran wiederholt (insgesamt 18 Mal) betont wird, er sei eine Bestätigung dessen, was vorher als Schrift offenbart wurde. In einer der mekkanischen Suren wird darauf hingewiesen, dass Gott dem Propheten den Koran eingegeben habe. Er sei die Wahrheit zur Bestätigung dessen, was an Offenbarungen vor ihm da war (Koran 35:31). Damit sind sowohl das Alte als auch das Neue Testament gemeint. In einer der medinensischen Suren wird mit Nachdruck betont, Gott habe früher auch die Thora und das Evangelium als Rechtleitung für die Menschen herabgesandt. Jedoch sei der Koran die Rettung für alle Menschen. In derselben Sure soll der Prophet den Juden mitteilen, dass er als Gesandter Gottes auch zu ihnen gekommen ist, um zu bestätigen, was von der Thora vor ihm da war. (Koran 3:50).
Die Sünden der Juden
Wo Juden – oder allgemeiner: Leute der Schrift – im Koran negativ dargestellt werden, speist sich dies offenbar vor allem aus der Tatsache, dass sie sich trotz aller Bemühungen des Propheten nicht zum neuen Glauben bekehren ließen. Zu den häufigsten Vorwürfen gehört, dass sie nicht an die Verse Gottes – also den Koran – glaubten. Als Folge dessen heißt es: „Gottes Fluch komme über die Ungläubigen.“ Die Juden werden für ungläubig erklärt, wenn sie sich nicht zum Islam bekehren. Immer wieder richtet der Koran an sie und alle Leute der Schrift das Wort und spart auch nicht mit Warnungen und Drohungen.
Den Juden werden aber auch viele andere Verstöße gegen Gottes Gebote zur Last gelegt, mal ganz allgemein (Koran 5:78-79), mal mit explizitem Bezug auf einige der Zehn Gebote (Koran 2: 83). Diese Verse sind Bestandteil einer langen Passage, in denen den Juden zahlreiche Verfehlungen gegenüber Gott und seinen Propheten, darunter Moses, zur Last gelegt werden. Wiederholt wird ihnen vorgeworfen, sich Gottes Propheten widersetzt, ja sie sogar getötet zu haben (Koran 2:91; 3:21, 112; 5:70). Zu ihrem Sündenkatalog gehört auch die Verhärtung der Herzen (Koran 2:74). So schafft der Koran eine Erzählung von der Verstocktheit der Juden, die zur Erklärung dafür herangezogen wird, warum sie den Koran nicht annehmen wollen: „Diejenigen, denen die Thora aufgeladen worden ist, und die sie daraufhin nicht tragen konnten, sind einem Esel zu vergleichen, der Bücher trägt.“
Die Vorwürfe münden in Verfluchungen und Verwünschungen, in denen sich die abwertende Haltung gegenüber den Juden aufs Deutlichste ausdrückt. So werden etwa manche wegen Verletzung des Sabbats in Affen verwandelt. An anderer Stelle wird den Leuten der Schrift damit gedroht, dass Gott Leute „verflucht hat, und über die er zornig ist, und aus denen er Affen und Schweine und Götzendiener gemacht hat“
Diese zum Teil heftigen Anfeindungen sind fast immer an konkrete Vorkommnisse gebunden und oft nur an einen Teil, nicht an die Juden generell gerichtet. Doch sie münden in allgemeine, pejorative Aussagen. So warnt der Koran den Propheten bereits in der ersten in Medina offenbarten Sure davor, Juden und Christen würden „nicht mir dir zufrieden sein, solange du nicht ihrem Bekenntnis folgst“ (Koran 2:120). An anderer Stelle wird zwischen Juden und Christen differenziert, wobei Juden (neben Heiden) die feindseligste Haltung gegenüber dem Glauben zugeschrieben wird. In der ersten Sure wird darum gebetet, dass Gott die Muslime nicht auf den Weg derer leite, „die dem Zorn verfallen sind und irregehen“.
Unter muslimischen Gelehrten herrscht der Konsens, dass diejenigen, die dem Zorn Gottes verfallen sind, die Juden seien, und die Irregehenden die Christen. Die Auseinandersetzungen des Propheten mit den Juden im Medina hatte ab 624 ein blutiges Nachspiel. Sie wurden enteignet, vertrieben, einige ihrer Kinder und Frauen versklavt und zahlreiche Männer enthauptet. Und diese Gewalt des Propheten und seine heiligen Krieger gegenüber den Juden wird sogar anhand des Koran legitimiert.