Pannonica Rothschild, genannt Nica, das schwarze Schaf des englischen Zweigs der berühmten Bankiersdynastie, brach aus dem goldenen Käfig aus und landete auf Umwegen in der New Yorker Jazz- Szene der 1950er-Jahre, wo sie ihre Bestimmung und ihre Liebe fand.
VON HERBERT VOGLMAYR
„Ihre Geschichte ist unsere Geschichte.“
Sonny Rollins, Jazzmusiker
„Round Midnight“, eine dreiminütige Komposition des Jazzpianisten Thelonious Monk, reichte aus, um das Leben der Diplomatengattin Pannonica de Koenigswarter, geborene Rothschild, Ende der 1940er-Jahre von Grund auf umzukrempeln – ein Initiationserlebnis der besonderen Art. Schon etwas vorher hatte sie das erste Mal „einen Ruf“ vernommen, als sie Duke Ellingtons Jazz-Suite „Black, Brown and Beige“ hörte. „Ich war in Mexiko, saß im diplomatischen Leben und dem ganzen Scheiß fest und hatte einen Freund aus der Musikszene. Er besorgte mir Platten, und ich besuchte ihn auf seiner Bude, um sie mir anzuhören. Bei mir zu Hause, in dieser Atmosphäre, wäre das nicht gegangen … Als ich Ellington hörte, empfing ich die Botschaft, dass ich dort hingehörte, wo diese Musik gemacht wurde. Da war etwas, was ich einfach tun musste … eine echte Berufung. Sehr seltsam.“ Bei dem Freund handelte es sich um den namhaften Jazzpianisten Teddy Wilson, einst Klavierlehrer ihres Bruders. Als er ihr dann Monks „Round Midnight“ vorspielte, war es vollends um sie geschehen: „Ich hatte noch nie etwas Ähnliches gehört. Ich muss das Stück zwanzig Mal hintereinander abgespielt haben. Verpasste meinen Flieger. Tatsächlich bin ich nie wieder nach Hause gefahren.“ Im Lauf der Jahre wurde daraus eine liebevoll ausgeschmückte Legende der Jazzfolklore, etwa so: „Kennst du die verrückte Baroness, die von einem Klavierstück verhext wurde?“ Das Ganze erinnert ein wenig an den englischen Dichter Philip Larkin, der über Sidney Bechet, eine andere Jazz-Größe, geschrieben hat: „Auf mich fällt deine Stimme, wie es die Liebe sollte: Wie ein gewaltiges Ja.“
Mäzenin und Muse
Die Dokumentarfilmerin Hannah Rothschild wollte ihre extravagante Großtante suchen und kennenlernen, stieß dabei aber auf erhebliche Schwierigkeiten, weil das schwarze Schaf in der auf Ansehen und Diskretion bedachten Familie totgeschwiegen wurde. Nun erzählt sie in dem Buch Die Jazz-Baroness von Nicas kurvenreichem Leben: von ihrer Kindheit in englischen Schlössern, ihrem Kampf gegen die Nazis bei den Freien Französischen Streitkräften unter de Gaulle (als Bomberpilotin und Jeepfahrerin), ihrer Ehe mit Baron Jules de Koenigswarter, der einer jüdischen Familie mit österreichischen Wurzeln entstammte und als Diplomat tätig war, vom Bruch mit der Familie und dem Zurücklassen ihrer Kinder, schließlich von ihrem Leben als weiße Adelige unter schwarzen Genies in der kulturellen Blütezeit des verruchten Harlem. Sie wurde als Mäzenin und Muse zur Verbündeten im täglichen Lebenskampf der schwarzen Musiker, besorgte ihnen Auftritte und bezahlte ihre Arztrechnungen.
Die umfassend recherchierte Biografie ist in einem angenehm leichten Ton geschrieben, liefert immer wieder atmosphärisch dichte Beschreibungen der klassischen Epoche des Bebop-Jazz, erzählt aber auch vom Aufstieg und Niedergang der Rothschild-Dynastie und ist nicht zuletzt eine Verbeugung vor einer bedingungslos Liebenden und die Erinnerung an ihr aufregendes Leben. Die Jazz-Baroness ist faszinierender Lesestoff, auch für jene, die an Jazz wenig interessiert sind.
Als Nica in den Big Apple kam, brach in der Metropole des Jazz gerade der Bebop mit seinen dissonanten, anarchischen, explosiven Phrasen los: die Musiker zersplitterten die Töne in tausend Stücke, spielten die Noten mitten in der Melodie rückwärts, scherten sich einen Dreck um musikalische Konventionen und warfen die Akkordstrukturen des traditionellen Jazz über den Haufen. Darüber hinaus gab diese Musik einer Generation von Afroamerikanern eine Stimme in ihrem Kampf um Freiheit und Gleichheit. Sie waren mit der US-Army in den Krieg gezogen, um europäische Länder vom Faschismus zu befreien, und kamen zurück in eine rassistische Gesellschaft, in der es ihnen verboten war, die Restaurants, in denen sie auftraten, durch die Vordertür zu betreten, oder in den Hotels zu schlafen, auf deren Podien sie musizierten.
Die betörend-verstörende Musik Monks, in die sich Nica verliebt hatte – eine lyrisch-dissonante, spannungsgeladene Ballade von überirdischer Melancholie – war wohl auch ein Spiegelbild ihrer Stimmung nach dem Scheitern ihrer unerfüllten Ehe und dem Bruch mit den Adelskonventionen ihrer Familie. Sie fuhr in ihrem Rolls Royce und später in ihrem weißen Bentley-Cabrio (der bald als „Bebop-Bentley“ bekannt werden sollte) zu den Jazzclubs, um in diese Musik einzutauchen und nach Monk zu suchen, der unter Kennern als Hohepriester des Modern Jazz galt. Er hatte die harmonischen Möglichkeiten geschaffen, die Musiker wie Charlie Parker, Dizzy Gillespie und Miles Davis aus dem Korsett des traditionellen Jazz befreiten. (Davis: „Ich habe von Monk mehr gelernt als von irgendjemand anderem.“) Während Gillespie und Parker immer mehr Anerkennung bekamen, verlor Monk nach einer Drogenrazzia (1951) für mehrere Jahre seine Arbeitserlaubnis, die sogenannte Cabaret Card, er konnte nicht mehr arbeiten und war pleite, sodass er praktisch wie ein Gefangener in seiner winzigen Wohnung lebte. Diese „Unjahre“ („unyears“, so nannte er diese unproduktive Zeit) verbrachte er hauptsächlich damit, auf dem Rücken liegend ein Bild von Billie Holiday zu betrachten, das er an die Zimmerdecke über seinem Bett geheftet hatte.
Nica musste nach Paris fliegen, um Monk zu hören, wo er 1954 auftrat. Bei diesem Konzert wurde sie ihm vorgestellt und widmete ihm von da an bis zu seinem Tod 1982 ihr Leben und ihre Liebe. Sie war ganz auf Monk, seine Musik und sein chaotisches Leben ausgerichtet, auch als der an Depressionen und anderen Krankheiten leidende Monk oft tagelang schweigend im Bett lag und als Musiker längst verstummt war.
Nicas Asche und der Hudson River
Als die Saxofon-Legende Charlie Parker nach einer beeindruckenden Musikund einer bedrückenden Drogenkarriere verarmt und krank an die Tür ihrer Suite im Stanhope Hotel in Manhattan klopfte, ließ sie ihn ein und holte einen Arzt, der aber nicht mehr helfen konnte. Parker starb wahrscheinlich an einer Überdosis. Die Klatschpresse in den immer noch von Rassensegregation gezeichneten USA interessierte sich jedoch weniger für den tragischen Verlust eines virtuosen schwarzen Musikers, sondern stürzte sich auf die weiße Frau, die adlige jüdische Rebellin, in deren Hotelsuite er seine letzten Stunden verbracht hatte und die auch gerne als „Negerhure“ oder „Niggerliebchen“ beschimpft wurde.
Clint Eastwood hat in seinem Film Bird nicht nur dem genialen Charlie Parker, sondern auch der Grande Dame des Jazz ein filmisches Denkmal gesetzt. Während Forest Whitaker in der Titelrolle eine Ahnung davon vermittelt, wie unendlich anstrengend Genies sein können, wird „Baroness Nica“ als glamouröse „creature of the night“ mit meterlanger Zigarettenspitze präsentiert, die sich später rührend um den sterbenskranken Parker kümmert. Eastwood sagte über sie: „Nica machte sich die ganze Kultur des Jazz und Bebop zu eigen und liebte das Rebellische an ihr.“ Insgesamt etwa zwei Dutzend Musikstücke wurden für sie geschrieben, die bekanntesten darunter von Thelonious Monk („Pannonica“) und Horace Silver („Nica’s Dream“).
Bevor Nica 1988 starb, hatte sie eine letzte Bitte an ihre Kinder: Sie sollten ihren Leichnam einäschern lassen und die Asche in den Hudson River streuen, und das musste unbedingt um Mitternacht geschehen – Round Midnight eben.
Hannah Rothschild
Die Jazz-Baroness: Das Leben der Nica Rothschild
Berlin Verlag, Berlin 2013
352 Seiten
15,99 EUR