VON MARTIN ENGELBERG
Einige Entwicklungen im vergangenen jüdischen Kalenderjahr kündigen massive Änderungen im Judentum an. In Israel wird die Autorität der beiden Oberrabbiner und vor allem deren Oberhoheit über die Konversionen zum Judentum in Frage gestellt und durch die Gründung privater religiöser Gerichte unterlaufen. Diese werden Übertritte zum Judentum erleichtern. Diese Rabbinatsgerichte haben bereits ihre Tätigkeit aufgenommen und sollen in Zukunft auch außerhalb Israels tätig werden.
Diese Entwicklung hat vielfache Auswirkungen in der jüdischen Welt: Über kurz oder lang wird sich Israel zu einem laizistischen Staat entwickeln. Immer größer wird der Widerstand gegen die religiöse Dominanz im öffentlichen und privaten Leben in Israel. Werden einmal die Konversionen der neugegründeten privaten Rabbinatsgerichte anerkannt, dann müssen auch die von Reformrabbinern in den USA durchgeführten Übertritte zum Judentum gebilligt werden. Alle diese Entwicklungen werden zu einer noch größeren Vertiefung des Grabens, wenn nicht sogar zu einem Schisma zwischen religiösen und nichtreligiösen Juden führen.
Auch die Stellung des Staates Israel innerhalb des Judentums wird kontroversieller. Der frühere langjährige Oberrabbiner Großbritanniens, Lord Jonathan Sacks, weit über die Grenzen seines Landes geschätzt und anerkannt, erregte vor einigen Monaten größtes Aufsehen in der jüdischen Welt, als er bei einer Konferenz in Herzlia feststellte, dass Israel immer ein vereinigender Faktor im jüdischen Leben gewesen sei, jetzt aber zu einem entzweienden Faktor geworden wäre. Der Aufschrei war groß.
Mindestens ebenso problematisch für das Verhältnis Israels zum Diaspora-Judentum ist das Agieren des israelischen Premierministers Netanjahu. Im Zusammenhang mit den Diskussionen um das Abkommen mit dem Iran zwingt er die amerikanischen Juden in eine zunehmende Polarisierung. Diese stehen traditionellerweise zu 70 bis 80 Prozent im Lager der Demokraten, also derzeit hinter Präsident Obama, und werden jetzt von Netanjahu unter Druck gesetzt, gegen „ihren“ Präsidenten aufzutreten. Israel konnte sich in den USA bisher einer allgemeinen, überparteilichen Unterstützung sicher sein. Die derzeitigen Politiker Israels machen es aber zunehmend zum einem Thema der innenpolitischen Auseinandersetzungen in den USA. Dies schwächt die traditionell so engen und wichtigen Beziehungen zwischen den USA und Israel und entfremdet zunehmend viele jüdische Menschen in den USA von Israel.
Schlussendlich ist insgesamt eine Identitätskrise im Judentum feststellbar. Während der Wohlstand, die Sicherheit, Gleichberechtigung, Karriere- und Entfaltungsmöglichkeiten, die Anerkennung und Wertschätzung von jüdischen Menschen in der westlichen Welt noch niemals in der Geschichte so groß waren wie heute, wird allseits von einer gewaltigen antisemitischen Gefahr gesprochen. Gewiss waren die Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Paris und Kopenhagen schrecklich und ist der hohe Anteil an antisemitischen Vorurteilen unter den Muslimen besorgniserregend. Das hysterische Dramatisieren dieses Problems durch jüdische Politiker ist jedoch einerseits kontraproduktiv und deutet andererseits darauf hin, dass sich der Kampf gegen den tatsächlichen oder vermeintlichen Antisemitismus zum wichtigsten identitätsstiftenden Merkmal für nichtreligiöse Juden entwickelt hat.
Tatsache ist nämlich, dass im Judentum das traditionelle jüdische Leben, die Erhaltung jüdischer Werte und Traditionen immer mehr verloren geht, ebenso wie Jiddisch als Sprache der Kultur, der Lebensart und vor allem des Humors. Während jüdische Folklore, Musikfestivals usw. bei Juden wie Nichtjuden boomen wie nie zuvor, wird immer diffuser, was jüdische Menschen überhaupt noch jüdisch macht. Es reduziert sich immer öfter nur mehr auf die Abstammung, das Statement, jüdisch zu sein, das Eintreten für Israel und eben einen oft fieberhaften Kampf gegen Antisemitismus.
All den genannten Polarisierungen und Spaltungstendenzen im Judentum entgegenzuwirken, all die unterschiedlichen Facetten und Tendenzen wieder mehr zu vereinigen, einander mit mehr Wertschätzung, Respekt und Verständnis zu begegnen, ist die größte Herausforderung im Judentum von heute.