Die Goldene Joich muss wieder her

Es steht in jedem Reiseführer: Wien ist natürlich stolz auf seine jüdische Kultur. Die von früher. Heute fristet die jüdische Alltagskultur in Wien eher ein bescheidenes Dasein. Ein Einwurf an einem Beispiel: Wo ist die jüdische Küche geblieben?
Von Rainer Nowak

Wien ist eine Weltstadt. Mit Sicherheit. Das meinen nicht nur die Stadtväter. Auch ansonsten kritische Zeitgenossen mit Wohnsitz an der Donau kommen bisweilen ins Schwärmen, wenn sie sich darüber verbreiten, „wie toll sich Wien entwickelt hat“. Dass internationales Flair in die Stadt gekommen sei, ein nächtlicher Spaziergang beweise dies. Bestes Beispiel sei das Boomen der Lokalszene. Zugegeben, es hat sich was getan, großstadttechnisch. Vor vielleicht fünfzehn Jahren drohte man an einem Sonntagmittag zu verhungern, wenn man zu Hause einen leeren Kühlschrank und keine Einladung von guten Freunden hatte. Offene Restaurants waren kaum vorhanden und wenn, dann gar nicht gut, aber ausgebucht. Das hat sich geändert. Heute bekommt man an jeder Ecke Lemongras-Suppen, Sushi und die schrägsten Pasta-Variationen. Toll. Als Restaurantkritiker komme ich gar nicht mehr nach. Weiter so, kulinarische Weltstadt Wien.

Irgendwann haben wir es sicher geschafft, dass wir im neuesten In-Lokal dann plötzlich gar nicht mehr genau wissen, in welcher Stadt wir essen – sieht man von den altbekannten Gesichtern an den Nebentischen einmal ab. Bravo: kulinarisch gut, aber identitätslos.

Bestes Beispiel: das Fehlen der jüdischen Küche in Wien. Warum das so gekommen ist, wissen wir alle, und dabei klingt die Klage, dass das Essen verloren gegangen ist, geradezu zynisch. Dennoch: Auch dieser Teil jüdischwienerischer Identität ist verloren gegangen. Nach einigen Jahren intensiver Verkostung von Wiener Lokalen habe ich von jüdischer Küche so gut wie keine Ahnung. Freunde halfen mit einem Kochbuch aus, im Alev-Alev konnte ich die Klassiker probieren. Nur bei Reisen nach New York und Berlin war der Ess-Horizont in diese Richtung zu erweitern. Ein Wiener Lokalkritiker, der keine Ahnung von jüdischem Essen hat? Das sagt eigentlich ohnehin schon alles. Warum gab es bisher keine Renaissance der jüdischen Kost in Wien? Sind die Wiener Geschmacksnerven antisemitisch?

Ich hoffe, zumindest die nicht. Schon eher sind nur die Gastronomen nicht mutig und einfallsreich genug, sich an eine neue Welt vorzutasten, die nicht stromlinienförmig in den Hochglanzmagazinen gefeiert wird. Schon klar, jüdische Küche ist nicht gleich jüdische Küche. Wie kompliziert, schwierig und kostenintensiv eine echt koschere Küche ist, kann ich mir vorstellen, dem Alev-Alev an dieser Stelle ein großes Dankeschön. Und dass es beim letzten Mal nicht ganz so gut war wie bei anderen Besuchen zuvor, mag an der Hitze liegen, die den Koch, meinen Geschmack und den Appetit gedrückt hat. Als absoluter Laie auf dem Gebiet wage ich zu sagen, dass es zu Beginn schon reichen würde, wenn das eine oder andere neue Restaurant sich an jüdische Rezepte wagen würde. Dass Wien natürlich nicht New York wird, haben wir schon immer befürchtet, aber ein Hauch von Williamsburg wäre doch fein. In dem Teil Brooklyns wohnen nicht nur viele jüdische New Yorker, sondern dort (vor allem in der Gegend, die an das polnische Viertel Greenpoint grenzt) gibt es neuerdings einen Boom von jüdisch-osteuropäischer Küche, sodass auch Manhattanfans am Wochenende die lange U-Bahn-Fahrt auf sich nehmen und in das Trendviertel pilgern. Redimensioniert auf Wien hieße das: Die Leopoldstadt braucht jüdische Lokale.

Nach genauer Lektüre des feinen Buches „Jüdische Küche“ (Dausien-Verlag) verstehe ich, dass „in der jüdischen Kultur wie bei keiner anderen Weltliches untrennbar mit Heiligem verknüpft ist“. Und: „Die festlichen Mahlzeiten sind ein Bestandteil des religiösen Rituals, dem bei jeder Speise eine symbolische Bedeutung zukommt.“

Ganz unorthodox habe ich mir eine kleine Menüfolge zusammengestellt, die ich einmal in Wien bekommen möchte: Zu Beginn bitte eine Goldene Joich (Goldene Suppe) mit viel Mandeln (natürlich die aus Teig), dann Pflaumenzimmes, vielleicht noch ein paar Kreplach und unbedingt Huhn mit Hing und Orangensaft, am Schluss Nudelkugel mit Obst. Danach rühre ich nie wieder irgendeinen abgemagerten Nobelfisch auf Kresse-Himmelbett und Soja-Decke an.

Die mobile Version verlassen