Israels Tor steht weit offen für jüdische Flüchtlinge aus der Ukraine. Täglich landen Flüge am Flughafen Ben Gurion. Obwohl die harte Linie gegenüber nichtjüdischen Flüchtlingen nach Protesten vom linken Rand der Koalition etwas gelockert wurde, wurden hunderte Ankommende abgewiesen.
VON TIM CUPAL (ISRAEL)
Der Ukraine-Krieg ist hier in Israel weit weg und dann doch wieder ganz nah. Zum Beispiel gleich gegenüber vom Jerusalemer Rathaus: Das Pub, das hier schon seit Jahren betrieben wird, ist seit Kriegsbeginn namenlos. Über dem großen Holztor ist der Schriftzug des alten Namens noch gut lesbar. Die Buchstaben haben jahrelang Sonne und Regen abgehalten, helle Flecken auf dunklem Holz – das „Putin Pub“.
Eigentümer Leonid Teterin, selbst vor mehr als zehn Jahren aus Russland eingewandert, sitzt an der langen Bar und schenkt sich zuerst einmal ein Bier ein. An der Wand hängen Poster aus UdSSR-Zeiten, vor allem Bier-Werbungen. Am Tag nach Kriegsbeginn habe er gleich nach dem Aufwachen realisiert, man könne mit dem Namen Putin einfach nicht mehr weitermachen. Nach ein paar Telefonaten mit seinen Partnern habe er die Buchstaben schließlich abmontiert. Leonid wirkt noch immer irgendwie überrascht über das Interesse der vielen TV-Stationen aus Israel und der ganzen Welt, die ihn seit damals besucht haben. Sogar eine Journalistin der Radiostation „Echo Moskau“ habe ihn interviewt, noch vor der behördlichen Schließung des Senders. Seine Gäste aber hätten überwiegend positiv auf die Namensänderung reagiert, egal ob aus Russland oder der Ukraine.
„Wir sind alle ursprünglich aus dieser Gegend zwischen Russland und der Ukraine, wir sind Teil derselben Kultur, man kann nicht russischer oder ukrainischer Jude sein. Wir sind alle die gleichen Juden, alle von dort.“ Die Flüchtlingswelle aus der Ukraine und Russland beobachtet Leonid etwas argwöhnisch. „Wer soll das wieder zahlen?“, fragt er, um sich gleich darauf selbst die Antwort zu geben: „Wir werden das zahlen müssen.“
„Israel garantiert“
Israels Tor zur Welt steht weit offen für jüdische Flüchtlinge aus der Ukraine. Täglich landen Flüge mit Geflüchteten am Flughafen Ben Gurion. Der Name der Operation: „Israel guarantees“, übersetzt: „Israel garantiert“. Hinter der Luftbrücke steht die für Einwanderung nach Israel zuständige Jewish Agency. Anspruch auf den israelischen Pass hat laut israelischem Rückkehrgesetz, wer mindestens einen jüdischen Großelternteil hat. Seit einem Monat gilt das „Alijah-Express-Programm“, das Flüchtlingen ermöglicht, nach Israel zu fliegen, bevor die Überprüfung ihres rechtlichen Status abgeschlossen ist. „Wir rechnen mit einer beispiellosen Einwanderungswelle“, erzählt Yigal Palmor, Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen der Jewish Agency, „möglicherweise der größten seit dem Zerfall der Sowjetunion.“ Er hat nicht viel Zeit. Es herrscht Hochbetrieb. Die Hotline für Einwanderungswillige ist überlastet. „Wir wissen, dass die jüdische Kerngemeinde in der Ukraine 43.000 Mitglieder hatte, dazu kommen 200.000 Menschen, die laut Rückkehrgesetz Anspruch auf Einwanderung haben, das sind die Zahlen, auf die wir uns vorbereiten müssen.“
Bis jetzt betreut die Jewish Agency knapp 10.000 jüdische Flüchtlinge aus der Ukraine. Einen deutlichen Aufwärtstrend beobachtet Yigal Palmor auch bei Anfragen aus Russland: 8000 Olim, also Einwanderer mit Rückkehrrecht, sind seit Kriegsausbruch in Israel eingetroffen. Dazu kommen noch bis zu 18.000 Menschen aus der Ukraine und Russland, die bei Verwandten oder Freunden wohnen und die Einwanderungsanträge privat stellen. „Wir bereiten uns auf das Maximum vor“, sagt so Palmor.
Die Neuankömmlinge werden in Hotels im ganzen Land untergebracht, auch im „Jerusalem Gold“, gleich beim Autobusbahnhof in Jerusalem. Freiwillige verteilen Hygieneartikel und Kleidung. Der Lehrer Eliezer Lesovoy, selbst vor 20 Jahren aus der Ukraine eingewandert, bietet Beratung an. Das Wichtigste sei zuerst einmal ein Bankkonto, sagt er, dann die Arbeitssuche und ein Sprachkurs. 260 Frauen und Kinder sind hier untergebracht, in Zweizimmer-Suiten. Anna Shatokhina hat in Kiew als Hotelmanagerin gearbeitet. Die 30-Jährige wirkt müde, desorientiert. „Die größte Herausforderung ist, dass mein Sohn Artur noch so klein ist. Ich kann weder in die Sprachschule noch arbeiten gehen.“ Artur schläft im Kinderwagen neben ihr. Ihre Eltern sind in der Ukraine geblieben.
Flucht und jüdische Identität
„Der Staat Israel ist die Heimstätte des jüdischen Volkes“, erklärte Innenministerin Ayelet Shaked von der rechten Yamina-Partei ihre zu Beginn des Ukraine-Krieges harte Linie gegenüber nichtjüdischen Flüchtlingen, deren Zahl zunächst auf 5000 begrenzt war. Bei der Einreise mussten sie eine Kaution in der Höhe von 2700 Euro hinterlegen. 20.000 nichtjüdische Ukrainer, die schon vor Kriegsausbruch in Israel waren, dürfen bleiben. Nach Protesten vom linken Rand der Koalition und aus der Zivilgesellschaft wird die Asylpolitik für nichtjüdische Geflüchtete etwas gelockert: Die Einreisekaution wird abgeschafft. Wer Verwandte in Israel hat, darf für ein oder zwei Monate bei ihnen wohnen. Um Luft zu schnappen, wie die Innenministerin sagt. Die Verwandten müssen schriftlich garantieren, dass die Geflüchteten nur kurze Zeit im Land bleiben. Arbeitserlaubnis, Krankenversicherung, Kinderbetreuung oder Schulplätze gibt es für diese nichtjüdischen Geflüchteten nicht. 18.000 sind es laut Jewish Agency. Etwa 300 sind am Flughafen abgewiesen worden.
Drei Frauen und ein Krieg
Ein Abend bei Katya Gusarova in Modi’in in Zentral-Israel, mit Bier, Wodka und russischen Snacks. Katya ist vor 30 Jahren aus Russland eingewandert. Heute arbeitet sie im Archiv der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Seit zwei Monaten leben Alla und Mika bei ihr, eine nichtjüdische Ukrainerin und ihre Tochter. Der Kontakt ist über Katyas Arbeit in Yad Vashem zustande gekommen. Allas Urgroßvater hat im Zweiten Weltkrieg verfolgten Juden das Leben gerettet. Sein Name ist auf der Ehrenwand in Yad Vashem verewigt, als einer der Gerechten unter den Völkern, das Fachgebiet von Katja. Es sei wie im Märchen, erzählt Alla. Sie habe Katya geschrieben, schon eine Woche später seien sie in Israel gewesen. Mit einem Touristenvisum. Vor dem Gesetz hat die Urenkelin eines „Gerechten unter den Völkern“ allerdings keinen rechtlichen Anspruch darauf, in Israel bleiben zu können. Katya will das ändern: „Der Staat sollte seine Verantwortung wahrnehmen, um den Nachfahren der Gerechten zu helfen, es sind nicht viele, ein paar Dutzend, vielleicht hundert, die hierherkommen und hierbleiben wollen.“
Alla und Mika wollen bleiben. Es fühle sich an wie Gottes Wille, sagt Alla. Sie sucht einen Schulplatz für ihre Tochter, eine Wohnung und einen Arbeitsplatz. Bisher vergeblich. Die beiden haben nach wie vor keine gültige Aufenthaltserlaubnis.
Pub statt Putin
Leonid Teterin hat sein Bier ausgetrunken. Der Eigentümer des ehemaligen Putin-Pubs verrät den neuen Namen „Generation“. Ein Techniker ändert gerade den WLAN-Namen. In ein, zwei Wochen soll der neue Schriftzug über der Tür hängen. „Ich war nie politisch“, sagt Leonid, „Politik hat mich nie interessiert. Aber jetzt, mit dem Krieg, nach dieser Geschichte, die überall in den Nachrichten war, jetzt kann ich meine Mutter in Russland wohl in nächster Zeit nicht mehr besuchen.“ Langsam kommen die ersten Gäste in sein noch namenloses Lokal.