Endlich auf Deutsch erschienen: Shlomo Sands Dekonstruktion zionistischer Gründungsmythen Israels.
Von Thomas Schmiedinger
Bereits 2008 sorgte der 1946 in Linz geborene israelische Historiker Shlomo Sand in Israel mit der Veröffentlichung seines Werkes „Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden?“ für einige Aufregung. Der zur Gruppe der „neuen Historiker“ gerechnete Sand, der in seiner Jugend in der linksradikalen antizionistischen Matzpen aktiv war und heute als Professor an der Universität Tel Aviv lehrt, hatte mit seinem Buch einen empfindlichen Punkt im zionistischen Staatverständnis getroffen. Außerhalb Israels war Sands Werk bislang jedoch kaum zugänglich. Mit der nun bei Propyläen veröffentlichen deutschen Übersetzung kann man sich auch dann ein Bild davon machen, wenn man nicht Hebräisch kann.
Für Sozialwissenschafter, die mit der neueren Nationalismusforschung vertraut sind, ist Sands Ansatz wenig überraschend. Sands Analyse der „Erfindung des jüdischen Volkes“ basiert auf den theoretischen Ansätzen, mit denen Benedict Anderson, Ernest Gellner und Eric Hobsbawm in den 1980er-Jahren eine konstruktivistische Wende in der Nationalismusforschung einleiteten. Vereinfacht zusammengefasst gehen diese Ansätze davon aus, dass Nationen nicht einfach existieren, sondern geschaffen werden. Sie sind „vorgestellte Gemeinschaften“, die aus der Ideologie des Nationalismus resultieren und nicht umgekehrt. Als solche sind sie jedoch nicht weniger wirkungsmächtig. Shlomo Sand zeichnet diesen Vorgang anhand des „jüdischen Volkes“ nach.
Gerade darin liegt die Sprengkraft seines über 500 Seiten umfassenden Werkes. Dass das eben erst sehr spät, gerade aufgrund der Erfahrungen des Antisemitismus und der Shoah, sich als „Volk“ betrachtende „jüdische Volk“ in Sands Werk dekonstruiert wird, ist aufgrund dieser der Nationsbildung zugrunde liegenden Verfolgungsgeschichte mit Sicherheit wesentlich dramatischer als die Dekonstruktion anderer „Völker“ und „Nationen“. Interessant ist dabei die Methode, mit der er sich in der Dekonstruktion der zionistischen Vorstellung vom „jüdischen Volk“ versucht.
Sand schildert nicht nur die Ungereimtheiten, die zionistische und andere nationaljüdische Strömungen im 19. Jahrhundert beiseite schieben mussten. Im Detail arbeitet er anhand der zionistischen Quellen und der darauf aufbauenden Debatten auf, was denn nun mit den alten Judäern angeblich nach dem Jahre 70 geschehen wäre, und wer nun die Vorfahren der gegenwärtigen Juden, aber auch der Palästinenser wären. So macht er die Wandlung dieser Geschichtsrekonstruktion deutlich. Damit gelingt es ihm nachhaltig, die These von der Vertreibung des „jüdischen Volkes“ zu erschüttern. Sands vertritt die These, dass große Teile der zeitgenössischen jüdischen Bevölkerung Nachkommen von Konvertiten darstellen würden. Dafür kann er jedoch genauso wenig Belege vorlegen, wie die zionistische Geschichtsschreibung für die Vertreibungsthese.
Es mag sein, dass dieses Buch von wütenden Antizionisten als Munition benutzt werden kann. Vor allem sein Schlusskapitel über die Identitätspolitik in Israel, das politisch orientiert ist, bietet Anknüpfungspunkte für propagandistische Verwendung. Wer sich auf die von Sand dabei benutzten Schlagworte von Israel als „Ethnokratie“ oder von den „Apartheidsgebieten“ stürzt, kann ihn entweder für antiisraelische Propaganda benutzen oder ihm genau diese vorwerfen. Der Leser sollte jedoch auch zur Kenntnis nehmen, dass Sand an keiner Stelle die Zerstörung Israels propagiert, sondern eine Zweistaatenlösung und eine Säkularisierung Israels, die Israel zum Staat aller seiner Staatsbürger – auch der arabischen Israelis – machen soll.
Shlomo Sand:
Die Erfindung des jüdischen Volkes.
Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand.
Propyläen, Berlin 2010
5,70 Euro