Der Ungeist und die Flasche

Wie lässt sich Antisemitismus definieren? Mehr als 100 bewaffnete Konflikte gibt es derzeit auf der Welt, warum beschäftigen sich alle mit Israel? ©ALEXANDER POHL/ACTION PRESS/PICTUREDESK.COM

Von Harry Bergmann

Man kann auch viel gegen Österreich sagen. Man kann auch viel gegen Amerika sagen. Man kann auch viel gegen Deutschland, Frankreich, England, …. sagen. Man kann viel gegen jedes Land sagen, aber komischerweise wird das ausgerechnet bei Israel zur Manie. Immer wieder ernennt sich der eine oder andere – wie unlängst Eric Frey – selbstbewusst zum unfehlbaren Grenzzieher zwischen Israel-Kritik und Antisemitismus. Ich kann das nicht. Ich kann Ihnen höchstens sagen, wo meine Grenze verläuft, also ab wann der Antisemitismus-Tinnitus bei mir anfängt, im Ohr zu brodeln. Das wird Sie höchstwahrscheinlich nicht interessieren, aber wenn doch: 

Israel-Kritik ist (noch) kein Antisemitismus.

Die Dämonisierung Israels ist Antisemitismus.

Israel die Schuld dafür zu geben, dass Israelis bestialisch ermordet werden, ist Antisemitismus.

Antizionismus, der das Existenzrecht Israels infrage stellt, ist verkleideter Antisemitismus, also Antisemitismus.

Kritik an der Siedlungspolitik Israels im Westjordanland ist kein Antisemitismus. 

Kritik an der Regierung Netanjahu und insbesondere seiner ultrarechten Minister ist kein Antisemitismus.

Kritik an der Regierung Netanjahu und insbesondere seiner ultrarechten Minister, bei gleichzeitiger Auf-eine-Stufe-Stellen mit den Mördern, Vergewaltigern und Entführern der Hamas ist Antisemitismus.

Der Vorwurf des Genozids an Israel, nur weil es Israel ist, ist Antisemitismus.

Die Verherrlichung der Hamas ist Antisemitismus.

Die Nicht-Verurteilung des 7. Oktober ist Antisemitismus.

„Die hartnäckige Nicht-Verurteilung des 7. Oktober ist blanker Antisemitismus, Herr Varoufakis. Sie haben sich nicht nur nicht von der Hamas distanziert, sondern ausdrücklich festgehalten, dass Sie diese auch niemals verurteilen werden. Ihre Einladung zu den Wiener Festwochen ist der wahre Skandal!“

Die Gleichsetzung von Israel und Netanjahu – aus Mangel an Wissen – ist kein Antisemitismus.

Die Gleichsetzung von Israel und Netanjahu – trotz besseren Wissens – ist Antisemitismus.

Die Kritik an der Kriegsführung Israels ist kein Antisemitismus, allerdings sollte man dann eine bessere Idee haben, wie man die Herrschaft der Hamas in Gaza beendet. Haben Sie die? 

Die Kritik an der Kriegsführung Israels, ohne die Rolle der Hamas zu erwähnen, die die Zivilbevölkerung als Kanonenfutter missbraucht, ist Antisemitismus.

Das Beklagen viel zu vieler Opfer in Gaza ist kein Antisemitismus.

Die Forderung an Israel, sofort die Kriegshandlungen einzustellen, ohne von der Hamas die sofortige Freilassung aller Geiseln zu fordern, ist Antisemitismus.

Die Ausgrenzung israelischer Wissenschaftler, die Absage von Einladungen zu Konferenzen, die Ablehnung von wissenschaftlichen Artikeln, die Unterbrechungen von Vorlesungen ohne inhaltliche Begründung sind Antisemitismus.  

Diese Aufzählung erhebt weder einen Anspruch auf Vollständigkeit (weil ja täglich neue Formen des Antisemitismus erfunden werden) noch auf wissenschaftliche Evidenz und schon gar nicht auf Objektivität. Es ist ja schließlich auch mein Tinnitus.

Dieser Text ist ein Auszug aus Harry Bergmanns Kolumne „Loge 17“ im „Falter“ vom 12.5.2024. Wir danken für die Genehmigung.

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