Der Traum von einer anderen Mauer

Anlässlich der 25-Jahr- Feier der liberalen jüdischen Gemeinde Or Chadasch besuchte Anat Hoffman Wien. NU hat sie getroffen.
VON ERIC FREY (TEXT) UND REGINE HENDRICH (FOTOS)

Sie ist die Vorkämpferin in einer der symbolträchtigsten Auseinandersetzungen in einer Stadt, in der es an Konflikten nicht mangelt. Anat Hoffman hat 1988 die Frauenrechtsbewegung „Women of the Wall“ mitgegründet, die dafür kämpft, dass auch Frauen an der Klagemauer in Jerusalem genauso wie Männer beten dürfen – nach den Prinzipien des liberalen Judentums, aber gegen die Gesetze der Orthodoxie, die am Kotel, wie die Mauer umgangssprachlich genannt wird, das Sagen hat. Hoffman leitet heute das „Israel Religious Action Center“ (IRAC), eine Einrichtung des progressiven Judentums, die für die Rechte von Frauen, Einwanderern und Minderheiten in Israel kämpft.

NU: Was ist der Stand der Dinge in Ihrem Kampf an der Kotel?

Anat Hoffman: Religiöse Handlungen, die gegen die lokale Tradition verstoßen, sind untersagt. Das wird mit einem Jahr Gefängnis geahndet. Aber dieses Gesetz wird nicht angewandt. Denn die Gerichte wollen nicht entscheiden, was die lokale Tradition tatsächlich ist. Uns „Women of the Wall“ gibt es seit 25 Jahren, wir gehören dazu.

Das heißt, Frauen können wie Männer beten?

Sie können Talit tragen, laut beten, Teffilin legen und Schofar blasen. Nur aus der Tora zu lesen ist verboten, weil man keine Tora von außen hineintragen darf. Und Chanukka-Kerzen dürfen nicht angezündet werden, weil die einzige Chanukkia im Männersektor steht. Wir fordern deshalb, dass die Politik heuer das Anzünden der nationalen Chanukkia boykottiert.

Kann sich daran noch etwas ändern?

Durch die Macht der Ultra-Orthodoxie haben die Israelis die Fähigkeit zu träumen verloren, dass es mehr als einen Weg geben kann, jüdisch zu sein. Mein Traum ist eine Mauer, an der sich alle willkommen fühlen.

Aber die Kotel ist den Orthodoxen doch so viel wichtiger als liberalen Juden. Kann man ihnen diesen Ort nicht lassen?

Es geht hier um den Staat. Ich habe kein Problem mit der Ultra-Orthodoxie, die dort eine ultra-orthodoxe Synagoge haben will, sondern mit dem Staat, der ihr den Schlüssel zu dieser heiligen Stätte des Judentums gegeben hat. Sie hat in den letzten 48 Jahren viel zu viel bekommen. Orthodoxe sagen, sie können nicht beten, wenn Frauen in der Nähe das ebenfalls tun. Das ist ein unmoralisches Argument. Ich bin zu Kompromissen bereit: Legen wir Zeiten fest, wann Frauen beten dürfen. Wir haben mit den Muslimen Lösungen für das Grab der Patriarchen in Hebron gefunden, warum gelingt das nicht unter Juden?

Einerseits gewinnt die Ultra-Orthodoxie in Israel an Einfluss, andererseits erhält das liberale Judentum mehr Rechte. Welche Entwicklung ist stärker?

Die ultraorthodoxen Parteien erstarken nicht aus eigener Kraft, sondern weil die Säkularen schwächer werden. Die rechten Parteien bieten ihnen viel, und die Linken dann noch mehr. Daher wächst ihr Appetit, und ihre Forderungen werden immer empörender.

Was ist denn aus Ihrer Sicht das größte Problem mit der Macht der Ultra-Orthodoxie?

Dass ultra-orthodoxe Schüler vom normalen Lehrstoff ausgenommen sind und nichts über die moderne Welt wissen. Das ist eine Tragödie für Israel. Sie finden keine Arbeit, nur als Rabbiner und Kaschrut-Inspektoren. Deshalb gibt es auch immer mehr Kaschrut- Schulen und -Inspektoren. Die armen Hotelbesitzer: Sie benötigen heute eine Kaschrut-Bestätigung sogar für Zucker. Seit wann gibt es koscheren Zucker? Und sie dürfen im Galil nicht mehr Wasser aus dem Kinneret nehmen, weil etwas in den See hineingefallen sein könnte. Hat man je von nicht-koscherem Wasser gehört?

Welche Folgen hat das für Gesellschaft und Wirtschaft?

Im Jahr 2020 wird ein Viertel aller Schüler nicht beschäftigbar sein. Wir werden sie ihre großen Familien ernähren? Sie werden von Sozialhilfe abhängig sein. Die Rabbiner, die einst den Talmud geschrieben haben, haben daneben gearbeitet. Warum ist das heute nicht mehr möglich? Eine kleine Elite von 1.000 oder 2.000 Gelehrten können wir aus öffentlichen Mitteln bezahlen, aber doch nicht 100.000.

Und wie steht es mit dem liberalen Judentum in Israel?

Es gibt inzwischen staatliche Förderungen für sechs progressive Rabbiner – gegenüber 1.600 orthodoxen – und ein bisschen Geld für den Bau von Synagogen. Doch selbst das erforderte einen langen Kampf, und sie werden dennoch nicht als Rabbiner anerkannt. Dabei lehnen immer mehr Israelis die orthodoxen Institutionen ab. Zwölf Prozent sagen, sie würden einen nichtorthodoxen Rabbiner bevorzugen, das ist eine Million Israelis. Politik und Gesellschaft entwickeln sich in sehr unterschiedliche Richtungen

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