Sieben Mal – mindestens! – ist Leo Bretholz dem Tod von der Schaufel gesprungen, und damit meine ich: gesprungen. Vom Herbst 1938 bis zum Sommer 1944 war er auf der Flucht vor der Deportation, und immer wieder kam ein Engel daher, der ihm half, den Sprung zu wagen, zu überleben und dann den nächsten Schritt zu tun. Der sah dann ganz anders aus als die ätherischen Wesen mit dem leicht abwesenden Blick, den langen Wallekleidern und den rauschenden Schwanenflügeln aus der katholischen Kinderbibel. Aber immerhin: Zumeist waren sie katholisch, seine Engel. Der eine oder andere evangelische war auch darunter. Und, klar, auch jüdische waren dabei.
Von Helene Maimann, Fotos von Peter Rigaud
Siebzehn Jahre alt war Leo, als er in Wien in den Zug stieg, ohne Pass, ohne Auswanderungspapiere, um nach Trier zu fahren. Man schrieb Ende Oktober 1938. Wer konnte und entschlossen war, die Springflut des Wahnsinns hinter sich zu lassen, oder, wie Leo, eine Mutter hatte, die den entscheidenden Anstoß gab, versuchte wegzukommen, und das war für junge Leute weitaus einfacher als für ältere. Sie waren gesund, mobil, wagemutig und ungebunden, und es gab für sie eine Reihe von Hilfsorganisationen, die ihnen die Flucht ermöglichten – legal oder illegal. In Leos Fall war es die Ezra, die seine Flucht organisierte, legal bis Trier, dann, illegal, über den Fluss Sauer hinüber nach Luxemburg. Leo ließ schweren Herzens seine Mutter und seine beiden Schwestern zurück, er wird sie nie mehr wiedersehen.
Es regnete, als er in Trier ankam. Im kleinen abgenutzten Büro des Jüdischen Rats wartete man schon auf ihn und schickte ihn in die Peter-Friedhofen-Straße 13. „Friedhof“ und „13“, das verhieß nichts Gutes.
„Und wer wird dort sein?“
„Das sind die Barmherzigen Brüder.“
„Brüder?“
„Viel Glück“.
Ein Franziskanerkloster also. Der Mönch in der braunen Kutte, der ihm öffnete, lächelte sanft und stellte sich als Bruder Johannes vor. „Sie müssen sich keine Sorgen machen“, sagte er. Das war alles, was gesprochen wurde. Bruder Johannes wies ihm ein Feldbett in einem Zimmer an und lud ihn zum Abendessen ein. Sein erster Engel.
Zwei Tage später holte ihn ein gewisser Becker ab, brachte ihn mit einem Auto zur Grenze und hinüber, an den bestochenen deutschen Zöllnern vorbei, ins Niemandsland. Die Luxemburger würden ihn nicht durchlassen, also blieb nur der Sprung in die Sauer.
Es war der 31. Oktober und sehr kalt. In der Nähe des Flusses hieß Becker seinen Schützling aussteigen. Von einem Wässerchen, wie es der Donaukanal war, wie Leo geglaubt hatte, konnte keine Rede sein. Er konnte das Dröhnen des Wassers hören, die Sauer, sagt er, schien mich geradezu anzubellen. Es hatte die ganze Woche geregnet, die Strömung war rasend, große Zweige rauschten an ihm vorbei.
Leo wurde nervös. Er zog seine Socken aus, wie ihm Becker geraten hatte, die Schuhe wieder an, hielt seine Aktentasche mit ein paar Habseligkeiten fest, darunter seinen Tallis und seine Tefillin – und hinein in das wirbelnde Wasser. In seiner Familie war es nicht besonders religiös zugegangen, aber sie waren bewusste Juden. Die Mutter hatte darauf bestanden, dass er Tallis und Tefillin mitnahm. „Gott, ich habe deine heiligen Reliquien bei mir“, dachte er, „Mund und Ohren voll Wasser, beschütze mich!“ Sein Mantel und seine Schuhe zogen ihn nach unten, er schnappte nach Luft, hielt sich irgendwie in der Strömung, die ihn nach vorne zog und landete schließlich am anderen Ufer. Als er erschöpft hinaufkraxelte, dachte er nur daran, dass Tallis und Tefillin wahrscheinlich ruiniert seien. Aber sie taten ihre Beschützerpflicht auch im nassen Zustand, denn nach wenigen Minuten war Becker tatsächlich wieder da und brachte ihn mit dem Auto zu einem Gasthaus, in dem seine Tante Mina auf ihn wartete.
„Na, da hast du aber wirkliches Masel gehabt, dass dieser Becker wieder aufgetaucht ist. Genauso gut hätte er dich da sitzen lassen können. Er hat einiges riskiert für fünfzig Mark.“
„Stimmt“, sagt Leo. „Noch dazu hatte ich das Geld nicht in Münzen eingesteckt, wie vereinbart, sondern in Scheinen, und die waren natürlich waschelnass. Es hat ihn nicht amüsiert. Aber er hat die Abmachung eingehalten.“
Wir sitzen im Garten des Café Dommayer, es ist Anfang Mai, Vogelgezwitscher und Milchkaffee, und Leo erzählt und erzählt. Er hat die Geschichte seiner waghalsigen Fluchtjahre doch schon so oft erzählt, aber er wundert sich immer noch, dass er sie überlebt hat. „Es brauchte dazu vier Dinge“, sagt er, hebt die Hand und zählt sie an den Fingern ab. „Furcht. Hoffnung. Glück. Und Verstand. Wobei die Furcht ein zweischneidiges Schwert ist. Sie kann dich lähmen und sie kann dir dabei helfen, Dinge zu tun, die eigentlich über deine Kräfte hinausgehen. Mir hat die Furcht vor der Deportation immer wieder den Mut gegeben, eine neue Flucht zu wagen, weil als Held bin ich nicht auf die Welt gekommen. Aber ich habe es immer für die bessere Option gehalten, etwas zu tun, als abzuwarten und nichts zu tun. Die Hoffnung zieht einen dann schon nach vorn, und mit Grips wird dir auch das Glück helfen.“ Dann zeigt er auf den fünften Finger. „Chuzpe ist auch nicht schlecht, im richtigen Moment. – Und ein paar Schutzengel, nicht zu vergessen.“
Zwei Tage, nachdem er bei Tante Mina und Onkel Sam angekommen war, hatten sie sich schon wieder mit Leo zu befassen.
Er wurde in einem Luxemburger Café verhaftet, denn er war ein sans papiers, ein Papierloser. Auf der Polizeistation holte Leo tief Luft und gab unumwunden zu, in die Sauer gesprungen zu sein, um in der Freiheit anzukommen. Tante und Onkel verschwieg er geflissentlich. „Sie sind über den Fluss geschwommen?“, fragte der Beamte ungläubig. „Greifen Sie meine Kleider an“, sagte Leo. Die Knickerbocker waren immer noch feucht. Der Polizeibeamte zog ein Formular heraus und begann zu schreiben. Entweder, sagte er, zurück nach Deutschland. Oder Abschiebung nach Frankreich. Oder vor ein Gericht. Leo fackelte nicht lange. „Ich habe eine Tante in Paris.“ Die Nacht verbrachte er in einer Zelle, klein und sauber, Essen gab es auch, gut und reichlich, und tags darauf setzten sich zwei kettenrauchende Gendarmen mit ihm in den Zug, zeigten ihm wenig später den Weg über die grüne Grenze und wünschten ihm viel Glück für Paris. Dann verschwanden sie in ein Gasthaus.
„Nicht zu glauben“, sage ich. „Du hast sie mit deiner Offenheit entwaffnet.“ „Gut möglich“, sagt Leo. „Ich war zu allem bereit, um nicht zurück nach Deutschland zu müssen, sogar zu einer Erklärung, dass ich dieses Gefängnis nur aufs Beste weiterempfehlen kann. Aber ich bin dann doch nicht nach Frankreich gegangen, sans papiers und ohne Geld. Immer ein Schritt nach dem anderen, immer ein Tag nach dem anderen. Man muss durch jeden Tag kommen. Wenn es sehr schwierig wird – warte noch einen Tag.“
Er schlug sich zurück zu Onkel und Tante und schaffte es wenige Nächte später nach Brüssel, wieder mit Hilfe von Ezra, wieder mit Becker als Fluchthelfer. Es war der 9. November 1938. Der Nachthimmel war seltsam gefärbt, in Streifen, wie bei einem Wetterleuchten. Am nächsten Tag sahen sie die ersten Schlagzeilen: „Nuit de Terreur en Allemagne. Pogrom contre les Juifs.“ Sie hatten das Novemberpogrom gesehen. Und er war in Sicherheit – die Grenzkontrollen waren noch lax, das sollte sich sofort ändern. Becker brachte ihn zum Hilfskomitee und verschwand für immer aus seinem Leben.
Das Ezra-Komitee schickte ihn nach Antwerpen, und dort, in einer Gemeinschaftsküche, traf er völlig überraschend seinen Onkel David, den ältesten Bruder seiner Mutter. Onkel David, der Bratfisch-König vom Hannovermarkt in Wien, lautstark und hemdsärmelig. Onkel David, genannt der Schwitzer, dessen Energie sich in riesigen Bächen von Schweiß umsetzte. Er nahm den Neffen unter seine muskelbepackten Fittiche, brachte ihn zu entfernten Verwandten, den Frajermauers, und sorgte dafür, dass er eine Aufenthaltsbewilligung erhielt, bis zum 30. Mai 1940. Achtzehn Monate Atempause, auch für die diversen Engel.
Am 10. Mai 1940, wenige Wochen nach seinem 19. Geburtstag, wachte Leo im Sirenengeheul auf. Der Krieg war in Belgien angekommen, auf Antwerpen fielen die Bomben, Belgien wurde von der deutschen Wehrmacht überrannt. Er musste sich auf der Polizei melden, wurde abgeschoben, landete nach längerem Hin und Her in Südfrankreich, im Internierungslager Saint Cyprien. Vor ihnen waren die Spanienkämpfer da gewesen, das Lager war berüchtigt wegen seiner Primitivität. Tausende vegetierten in Holzbaracken. Fauliges Stroh, Latrinen auf Stelzen, null Hygiene, Dreck, unerträgliche Hitze, Mistral, Läuse, Flöhe. Und Sand, Sand, Sand, wohin man schaute, Sand mit Meerblick. Leo saß in der Falle. Draußen ging Frankreich im Blitzkrieg unter und in die Kapitulation, die Lagerinsassen führten ihren eigenen Krieg gegen die Ruhr und die plündernden Ratten. Da erschien, wie gerufen, der nächste Engel. Er hieß Leon Oesterreicher, war ein flüchtiger Bekannter aus Antwerpen und ein Freund seiner Verwandten. Leo war total überrascht über den unerwarteten Besuch.
„Was machst du hier?“
„Ich habe vor, dich hier herauszubekommen“, antwortete Leon. „Ich habe die Wachen beobachtet. Sie sind mit ihrer Arbeit sehr unzufrieden … Ich könnte einen von ihnen bestechen. Dann schauen sie im richtigen Moment zur Seite. aber es ist ein Risiko.“ Leo holte seinen Rucksack und ging, wie ihm geheißen, zum Lieferanteneingang für die Küche. Keine Wachposten. Auf der anderen Seite des Stacheldrahts stand Leon, hob den Draht – und er war durch. Sie machten sich auf den Weg nach Perpignan.
„Wie wusste er, wo er dich finden würde?“
„Leon hatte gehört, wohin die belgischen Transporte gebracht wurden. Und – auf den Listen des Roten Kreuzes in Toulouse fand er den Namen Frajermauer. Sie waren in Luchon, nahe der spanischen Grenze.“ Leon Oesterreicher drückte ihm Geld für die Zugfahrt in die Hand – und verschwand aus seinem Leben.
Die nächsten sechzehn Monate verbrachte Leo mit der Familie Frajermauer, zuerst auf einem Bauernhof bei Luchon, dann in Bagnères. Das war Vichy-Frankreich, von den Deutschen nicht besetzt. Das Schicksal schien es, trotz Krieg und Verfolgung, gut mit ihm zu meinen. Tante Mina und Onkel Sam war es gelungen, nach Amerika zu gehen und bereiteten sein affidavit vor, sein Einwanderungsvisum. Dann ging es Schlag auf Schlag. Die Deutschen hatten die Sowjetunion überfallen, die BBC brachte niederschmetternde Nachrichten über Pogrome und die Errichtung von Ghettos in Polen und im Baltikum, über Einsatzgruppen und „Umsiedlungen“. Die ersten Verwandten in Wien wurden nach Osten deportiert. Dann, im November 1941, endlich der erlösende Brief: „Kommen Sie am 8. Dezember 1941 zum US-Konsulat in Marseille.“ Das affidavit war da. Aber es wurde ihm nicht mehr ausgehändigt. Japan hatte am Tag zuvor die US-Flotte in Pearl Harbor angegriffen, alle Visaangelegenheiten wurden eingestellt. Im unbesetzten Süden von Fankreich begann die Polizei, jüdische Flüchtlinge zu verhaften und nach Drancy zu bringen, einem Vorort von Paris. Von dort, so hörte Leo, rollten bereits Deportationszüge in den Osten. Er tauchte bei einer befreundeten Familie unter, besorgte sich falsche Papiere und beschloss, sich gemeinsam mit einem Bekannten auf die Socken zu machen – in die nahe Schweiz. Er würde sich nicht einfach abholen lassen, er würde bei Evian über die Alpen in die Schweiz gehen, mit einem Bergführer. Die Füße erfroren fast, doch es gelang, sie waren frei. Aber nur dreißig Minuten lang. Dann wurden sie von einem Grenzbeamten aufgehalten.
Der lachte nur über die falschen Papiere und ließ sich auch nicht von Leos Freimütigkeit und Hoffnungen auf ein Schweizer Arbeitslager beeindrucken. Die beiden Burschen wurden der Vichy-Polizei übergeben und am nächsten Tag in Rivesaltes interniert. Bevor man Leo nach Drancy verfrachten konnte, versteckte er sich in einem Schlupfwinkel unter dem Plafond seiner Baracke. Aber das dünne Holz brach ein, er wurde erwischt und nach Drancy transportiert. Er kam am 22. Oktober 1942 an. Drancy – das war der Vorhof zur Hölle. Inzwischen lief die Todesmaschine der Nazis auf vollen Touren. 70.000 französische und 130.000 ausländische Juden wurden bis zur Befreiung im Sommer 1944 über Drancy nach Auschwitz deportiert. Es war eines der berüchtigsten Lager in Europa, ein Umschlagplatz der Vernichtung, ab Sommer 1943 herrschte hier der Österreicher Alois Brunner über Leben und Tod.
Wo waren seine Engel?
Leo kann heute noch immer nicht über die Zustände im Deportationszug des Transports Nr. 42, der ihn in den Osten „umsiedeln“ sollte, sprechen, ohne dass sein Atem schneller geht. Unerträgliches Gedränge, unerträglicher Gestank, Verzweiflung, Benommenheit, Resignation, Weinen, Trösten, Streiten. Es war der 5. November 1942, der Viehwaggon hatte an einem Ende ein kleines vergittertes Fenster, und Leo dachte nur an eines: Flucht. Er wusste nicht, dass es nach Auschwitz ging, aber er war sich sicher, dass er in den Tod fuhr. Mit ihm war ein junger Mann aus Wien, nicht weit von ihm in der Brigittenau aufgewachsen, Manfred Silberwasser. Die beiden beschlossen: Wir springen vom Zug. Die Leute um sie herum diskutierten das Vorhaben, hielten es für aussichtslos. Schließlich sagte eine alte Frau: „Allez-y, et que Dieu vous garde.“ – „Geht und möge Gott euch beschützen.“ Und wies mit ihrer Krücke auf Leo.
„Das war es“, sagt Leo und nippt vom Kaffee. „Sie hat ausgeschaut wie eine biblische Richterin. Ich hörte auch die Stimme meiner Mutter. Los, geh! Spring um dein Leben! Wenn du willst – auch diese Alte war ein Engel. Sie hat mir klar gemacht: Es gibt keine andere Wahl.“
Leo und Manfred zogen ihre Pullover aus, tränkten sie im Urin, der den Boden des Waggons bedeckte, drehten sie zu Stricken und begannen, die Stangen vor dem Fenster auseinander zu ziehen, fünf endlose Stunden lang. Dann war es so weit: Dreißig Zentimeter Zwischenraum, genug, um sich durchzuwinden. Es war auch höchste Zeit: Die Nacht brach an, und bald würde Frankreich hinter ihnen liegen. Sie wussten, dass der Zug bewacht war, dass sie nur in einer Kurve eine Chance hatten, wenn die Scheinwerfer es schwer hatten, sie zu erfassen und die Fahrtgeschwindigkeit niedriger war als sechzig Stundenkilometer. Also los. Sie zwängten sich durch, hielten sich fest, hantelten sich zur Kupplung nach vorn.
„Was hast du gespürt in diesem Moment?“
„Euphorie. Wilde Euphorie. ,C’est fait‘, schrien wir, wir haben es geschafft! Weißt du, viele Jahre später habe ich erfahren, dass man nur von zwölf Fluchtversuchen aus den französischen Deportationszügen weiß. Es war russisches Roulette, ganz klar. Wir hatten keinen Voucher in die Freiheit. Wir werden ja sehen, was passiert, dachten wir. Und dann spürten wir, wie der Zug langsamer wurde, wir konnten die ganze Länge des Transports sehen, die Scheinwerfer entlang der Waggons. Und dann sprangen wir, zuerst Manfred, dann ich.“
Der Zug blieb knirschend stehen, sie hörten zornige deutsche Stimmen, man suchte nach ihnen, fand sie nicht. Der Zug fuhr weiter. Beide hatten den Sprung unverletzt überstanden. Sie wanderten durch die Nacht, mit stinkenden Kleidern, glattrasierten Köpfen unter den Mützen, sie waren leicht zu erkennen als das, was sie waren – geflüchtete Deportierte. Sie kamen in ein Dorf, und dann stellten sich wieder die Engel ein, einer nach dem anderen: der Bäckergeselle, der sie zum Ortspfarrer brachte. Der Pfarrer, der sie baden ließ, ihnen zu essen und ein Bett gab und sie am nächsten Morgen mit einem Brief an einen Kollegen weiterschickte. Der nahm sie für die nächste Nacht auf und drückte ihnen dann zwei Bahnkarten nach Paris in die Hand, es war ein Sonntag, „da kontrollieren die Deutschen keine Züge“. Am 9. November 1942, einen Tag nachdem die Alliierten in Nordafrika gelandet waren und genau vier Jahre nachdem Becker ihn in Brüssel abgesetzt hatte, waren sie in Paris. Sie gingen schnurstracks zur Wohnung von Leos Tante Erna. Niemand öffnete, aber eine ältere Frau aus dem zweiten Stock, die merkwürdigerweise Madame Angel hieß, ging sie nach vorsichtiger Fragerei holen. Sie blieben zwei Wochen bei Tante Erna, dann brachen sie auf, ausgerüstet mit tadellos falschen Papieren, einem Kontakt zur Resistance und wurden bei Tour über die Loire gebracht, zurück nach Vichy-Frankreich. Noch einmal eine Festnahme, noch einmal rückte Leo mit der Wahrheit heraus. Sie wurden achselzuckend und mit einem laissez-passer versehen zur nächsten Polizeistation geschickt, weil, n’est-ce pas, auch wenn die Papiere gut, aber falsch sind, man war hier im freien Frankreich und was gehen uns die Deutschen an? Sie nahmen schleunigst den nächsten Zug nach Süden, dann trennten sie sich. Leo stieg in Bagnères aus und wurde sofort wieder verhaftet. Er wartete, bis ihm der Gendarm den Rücken zukehrte, und gab Fersengeld, ein Kinderspiel nach dem Sprung aus dem Zug.
„Du liebe Zeit, Leo, wie oft bist du noch verhaftet worden?“
„Naja, immer wieder. Zunächst hab ich ein Jahr Gefängnis gekriegt – weil ich die mir zugeteilte Residence unerlaubt verlassen hatte. Aber ich bin wieder abgehauen – durch das Klofenster am Bahnhof von Bagnère, gleich nach der Gerichtsverhandlung. Mit einer Handschelle an einem Arm, aber das war mir egal. Die Gendarmen sind drinnen im Bistro gesessen, beim Rotwein.“
Die Engel auf der Bühne von Leos Fluchtdrama kommen und gehen. Der Greißler von Bagnère, der seine Handschellen durchsägt. Der Bäcker, der ihm zwanzig Franc und frisches Brot mitgibt. Aber Leo hat Pech, wird wieder geschnappt, schwer verprügelt und in Einzelhaft gesteckt. Im September 1943 ist die Haft zu Ende, aber er kommt nicht frei. Er wird in ein Arbeitslager überstellt, zum Steineklopfen – ein Springer, ein Ausreißer, mit einer bedrohlichen Akte. Als er in ein anderes Arbeitskommando am Atlantik verlegt werden soll, nimmt er wieder sein Schicksal in die Hand. Er hat seit Jahren einen schweren Leistenbruch, der ihm immer mehr Beschwerden verursacht, er würde das nicht durchstehen, und, wer weiß, vielleicht geht der Zug nach Drancy. Leo lässt es nicht darauf ankommen. Er springt aus dem Zug, bevor der abfährt. Am Bahnsteig stehen die Wachen, aber die sehen ihn nicht – Fenster hoch, er lässt sich zwischen die stehenden Züge fallen, und weg ist er.
Nach einem einmonatigen Versteck bei zwei grauhaarigen Engeln namens Madame und Monsieur Marx und mit einer neuen piekfeinen Identität, diesmal sogar ungefälscht, weil aufgrund einer fast echten Geburtsurkunde ausgestellt, lautend auf Max Henri Léfevre, fuhr Leo Anfang 1944 nach Limoges. Die Alliierten standen vor den Toren der Normandie und Leo war entschlossen, die deutschen Besatzer von innen her zu bekämpfen. Er hatte genug vom Verstecken. Und das Herz der Résistance war hier, im Süden. Leo ging in die Gruppe des Rabbi Abraham Deutsch. Sie unterstützten untergetauchte Flüchtlinge, besorgten falsche Papiere, Stempel und Siegel, bestachen Beamte, beobachteten Gefangenentransporte. Ende April 1944 wurde er bei einem Einsatz festgenommen – von einem SS-Offizier. Und jetzt wurde es richtig eng.
Der SS-Mann begann ihn zu verhören, in gebrochenem Französisch. Seine Papiere waren echt und gut, aber was bedeutete das schon! Leo beschloss, ihm aus der Verlegenheit zu helfen.
„Ich spreche Deutsch, Monsieur. Ich komme aus dem Elsass und lernte dort Deutsch in der Schule“, sagte er in charmant singendem Akzent.
„Ah so? Sie sprechen es recht gut.“ Und dann: „Sie sind doch eine Jude.“
„Das fehlt mir noch, ein Jude zu sein.“
„Er hätte mir nur befehlen müssen, die Hosen herunterzulassen, und aus wäre es gewesen“, sagt Leo. „Aber das hat er nicht getan. Komm mir nie mehr unter die Augen, hat er gesagt und mir zwei scharfe Ohrfeigen gegeben. Er wollte seinen Soldaten zeigen, wer hier der Herr ist. Er hat mein Gesicht geschlagen und seines bewahrt.“
„Du bist ihm auch entgegengekommen, damit er sich nicht mit seinem jämmerlichen Französisch blamiert.“
„Ja, wahrscheinlich.“
„Und er hat gewusst, wer da vor ihm steht.“
„Ja, ziemlich sicher. Er hat mich gewarnt und laufen lassen. Am Abend hat Rabbi Deutsch ein Dankesgebet gesprochen und gesagt, wenn es einen guten SS-Offizier gibt, dann war es dieser.“
Zehn Tage später brach sein Leistenbruch durch und er zusammen, mitten auf der Straße, er konnte sehen, wie die Geschwulst aus seinem Bauch herausquoll. „Das war“, sagt er, „der gefährlichste und verwundbarste Moment in meinem Leben. Ich konnte gar nichts tun, nicht springen, nicht davonlaufen. Eine Frau holte den Rettungswagen, um mich ins Spital von Limoges zu bringen, und ich konnte nur hoffen, dass das nicht meine letzte Fahrt war.“ Er verlor das Bewusstsein, und als er wieder aufwachte, spürte er eine Drainage in seiner Leiste, einen heißen Ziegel an seinen Füßen und blickte in das Gesicht einer Nonne.
„Ich bin die Schwester Jeanne d’Arc“, sagte sie, lächelte bezaubernd und fügte hinzu: „So lange ich auf dieser Station bin, haben Sie nichts zu befürchten.“
„Ich habe geglaubt, ich träume“, erzählt Leo. „Jeanne d’Arc! Ich habe im Zimmer herumgeschaut und mich gefragt, und wo ist das weiße Pferd?“
Und damit hatte es sich mit den Engeln. Leo kehrte Ende Mai 1944 in seine Résistance-Gruppe zurück, und knapp drei Monate später feierte Paris die Befreiung. Leo verließ 1947 Europa, ging nach Amerika, zu Tante Mina und Onkel Sam, nach Baltimore, wo er seitdem lebt. Er ist heute siebenundachtzig, jung und voller Energie, hält sich für den glücklichsten Menschen der Welt, ist seit 56 Jahren verheiratet, hat drei Kinder, vier Enkelkinder und glaubt, dass er nur durch Zufälle am Leben blieb. Das glaube ich nicht. Bei einem wie ihm hatten es die Engel nicht allzu schwer. Einige von ihnen hat er nach dem Krieg wiedergesehen. Fünfzig Jahre nach seiner Leistenbruch-Operation schrieb er an das Spital von Limoges und erhielt die Adresse der Schwester Jeanne d’Arc, nun Pensionistin in einem geistlichen Altersheim. Er schrieb ihr, sie schrieb ihm zurück, es entstand ein Briefwechsel, und schließlich fragte er: Wussten Sie, dass ich Jude bin? Sie antwortete würdevoll: „Monsieur, ich war dort die Oberschwester. Ich habe alles über meine Patienten gewusst.“
Leo Bretholz schrieb gemeinsam mit Michael Olesker seine Erinnerungen „Leap into Darkness“ (1999). Sie erschienen, mit einem Vorwort von Doron Rabinovici, 2005 unter dem Titel „Flucht in die Dunkelheit“ im Löcker Verlag, Wien.