Der Ruf nach dem Eruv

Eine Gruppe orthodoxer Frauen macht sich für einen Eruv stark, eine symbolische Abgrenzung, die ihnen erlauben würde, am Schabbat auch außerhalb ihrer Wohnung beispielsweise Kinderwägen zu schieben. Die Kultusgemeinde hält dieses Engagement für „unnötig“.
Von Danielle Spera

Sie leben streng nach den Gesetzen, der Halacha, die unter anderem das Tragen oder Schieben von Gegenständen am Schabbat verbieten. Die Folge ist, dass orthodoxe Frauen, wenn sie Kleinkinder haben, das Haus nicht verlassen können, da sie ihr Kind weder tragen, noch den Kinderwagen schieben dürfen.

Ein Eruv (hebräisch für Mischung) – eine Art Schabbatgrenze – würde dieses Problem lösen. In der Praxis stellt der Eruv einen Zaun dar – real oder symbolisch –, der ein bestimmtes Wohngebiet umgibt. Innerhalb dieser „Grenze“ finden die Schabbatregeln keine Anwendung. Die Grenze kann aus einem Seil oder einem Draht bestehen, der um einen Häuserblock oder ein Wohnviertel gezogen wird. Den eingezäunten Bereich können orthodoxe Juden dann als ihr gemeinsames „Heim“ betrachten. Das Band muss eine ununterbrochene Abgrenzung bilden und kann deshalb auch an Telefonmasten oder Gebäuden entlangführen. Natürliche Begrenzungen wie Flüsse können auch Teil des Eruv sein.

Theoretisch akzeptieren alle Rabbiner das Konzept des Eruv. Was die praktische Umsetzung anlangt, gehen die Meinungen über die genauen technischen Anforderungen an einen gültigen Eruv auseinander. Deshalb werden die vorhandenen Eruvim nicht von allen orthodoxen Juden genutzt. Weltweit (ohne Israel) existieren über 150 Eruvim, in den USA oder Kanada, aber auch in Johannesburg, Melbourne, Gibraltar, Antwerpen und Straßburg. Was die wenigsten wissen dürften: Sowohl das Europäische Parlament in Straßburg, als auch das Weiße Haus in Washington liegen innerhalb eines Eruvs.

In Wien gibt es noch keinen – und das sorgt nun für Gesprächsstoff. Denn gerade für orthodoxe Frauen ist das Fehlen eines Eruvs in Wien ein Problem. Nach der Auffassung des klassischen Judentums dient das Befolgen der Gesetze, wie zum Beispiel am Schabbat nichts zu tragen, dazu, Gott Respekt zu erweisen. Andererseits entstehen durch das Trageverbot viele mühsame Umstände und es vermindert die Freude am Schabbat. So fühlen sich viele Frauen am Schabbat wie eingesperrt. Denn der Schabbat ist der Tag, an dem die Familie zusammenkommt. Oft auch im Freien.

„Sie müssen sich vorstellen, dass eine Frau mit einem Kleinkind im Minimum ein Jahr lang am Samstag das Haus nicht verlassen kann. Manche haben Glück, und ihr Kind beginnt früher zu gehen, dann traut man sich aber meistens doch nicht hinaus, denn was ist, wenn das Kleine stehen bleibt und die Arme hochhebt?“, berichtet eine junge orthodoxe Frau, „da steht man dann vor einem Gewissenskonflikt“. Manche Kinder beginnen allerdings erst später zu gehen, da kann es sein, dass die Mutter bereits wieder schwanger ist und somit während einiger Jahre am Schabbat das Haus nicht mehr verlassen kann. „Sie schaffen es manchmal zehn Jahre nicht in die ,Freiheit‘, denn gerade am Schabbat möchte man sein Kind nicht einem Babysitter überlassen. Im Sommer können die Tage sehr lang sein, wenn man nicht aus dem Haus gehen kann“, berichtet eine ältere orthodoxe Frau. Sogar das Schieben eines Kinderwagens, streng genommen verboten, werde oft als Provokation aufgefasst. Ein schiefer Blick sei dann das Mindeste, mit dem einem in einer orthodoxen Synagoge begegnet wird, berichtet eine Frau, die seit drei Jahren in Wien lebt.

Auch ältere Menschen, die im Rollstuhl sitzen oder auf Krücken gehen, müssen zu Hause bleiben. Genau aus diesem Grund hat sich eine Gruppe jüdischer Frauen mit einer Petition an die jüdische Öffentlichkeit gewandt. „Nach einem langen Schabbat im Juni haben wir uns gefragt, warum sich die Umsetzung des Eruv so stark verzögert. Wir haben mit der Unterschriftensammlung begonnen und sind auf enorme Resonanz gestoßen. Die Unterschriften haben wir den Verantwortlichen aller IKG-Parteien übermittelt, um Antworten auf die Frage zu erhalten: Wie steht es um das Projekt Wiener Eruv?“, so eine der Initiatorinnen, die übrigens wie alle Gesprächspartnerinnen zu diesem Artikel zwar bereitwillig Auskunft gibt, aber doch vorsichtshalber ihren Namen nicht in NU veröffentlicht haben möchte.

IKG-Generalsekretär Fastenbauer hält die Petition der Frauen für verzichtbar. „Ich finde die Petition völlig unnötig. Sie ist ausschließlich im Zusammenhang mit den Kultusgemeinde- Wahlen zu sehen.“ Denn die IKG habe den Bau des Eruv auf Initiative von Khal Israel bereits vor zwei Jahren beschlossen. Es habe dann umfangreiche Gespräche mit den Behörden gegeben, die das Projekt zwar sehr ungewöhnlich empfanden, aber sich doch sehr kooperativ zeigten. Nach Aussage Fastenbauers sei der Umfang des Eruv bereits bestimmt und sehr klar. Umfasst werden sollen die inneren Bezirke und der 20. Bezirk. Der Gürtel oder die Donau seien als natürlicher Eruv vorhanden. Bei der Südbahn oder bei Unterführungen müsse man Schnüre spannen. Über die Kosten ist nur so viel bekannt, dass einen Teil die öffentliche Hand übernehmen wird, wofür es ein grundsätzliches o.k. aus dem Rathaus gebe.

Hinzu kommt, dass der Eruv jede Woche kontrolliert werden müsse. Nach Aussage der IKG soll es den Eruv in etwa einem Jahr geben. Tatsächlich haben die ersten Gespräche über einen Eruv bereits vor 16 Jahren stattgefunden, Gespräche, die aber im Sand verlaufen sind. Bis, ja bis die Tochter von IKG-Präsident Muzicant sich zur Orthodoxie hingewandt habe und nun auch eine der zahllosen betroffenen Frauen ist, für deren Leben ein Eruv eine deutliche Erleichterung bedeuten würde. Diese Tatsache habe – so meinen einige – die Gespräche wieder in Gang gebracht, denn prinzipiell würde auf die Bedürfnisse der Orthodoxie von Seiten der Gemeinde viel zu wenig Wert gelegt.

Tatsache ist, dass durch die Petition der Umsetzungsprozess jetzt transparenter für die Gemeindemitglieder würde – das sei das einzige, was zählt, hoffen die Eruv-Initiatorinnen, die stolz darauf sind, dass sich Frauen aus den verschiedensten Strömungen der Gemeinde für den Eruv einsetzen. Betroffen davon seien nach ihren Schätzungen 15 Prozent der Gemeindemitglieder. Doch nicht alle haben Verständnis für die Anliegen der orthodoxen Gemeindemitglieder: So berichtet eine fromme junge Frau von der Begegnung mit einem Führungsmitglied der IKG, das meinte, dass ohnedies nur wenige IKG Mitglieder streng nach den Gesetzen leben würden. Warum solle man für eine so kleine Gruppe viel Geld für einen Eruv ausgeben? Die Antwort der frommen Frau lautete: „Kol Israel Arevim Se LaSe – alle Juden bürgen füreinander. Das hat uns bis jetzt in unserer langen Geschichte weitergebracht.“

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