Übergriffe, Grabschändungen, Nazi-Schmierereien – das sind die altbekannten Formen des Antisemitismus. Medien, Politiker, Intellektuelle gehen aber meist subtiler vor. Immer öfter wird wieder Antisemitisches geäußert – meist einhergehend mit oder getarnt als Kritik am Staat Israel und nicht selten gepaart mit Antiamerikanismus. Was wieder möglich ist – Stimmungsbild eines diffusen Phänomens.
Von Alexia Weiss
In einer Wiener Straßenbahn hat jemand „Saujude“ an die Wand gekritzelt. In Frankreich werden jüdische Buben angehalten, statt der Kippa lieber eine Baseball-Kappe aufzusetzen, um sich keinen gewalttätigen Übergriffen auszusetzen. Aus ganz Europa gibt es Meldungen, wonach Gräber verwüstet werden. Das ist der Antisemitismus, wie wir ihn kennen. Traurig, aber wahr, scheint er zu Europa zu gehören. Er ist immer da, unterschwellig, mal mehr, mal weniger versteckt.
Seit dem Ausbruch des Irak-Kriegs hat der öffentliche Diskurs zu diesem Thema aber ein zusätzliches Motiv bekommen: Bei vielem, von dem bis dahin nicht gewagt wurde, es zu sagen, erscheint es nun legitim, ausgesprochen werden zu dürfen.
Mehr noch: Antisemitismus kommt nicht nur von rechts, wie zu erwarten ist, sondern neuerdings verstärkt auch von links – im Zug einer überzogenen Kritik an Israel, am Zionismus, an der so genannten Holocaust-Lobby und am so genannten Shoa-Business der angeblich jüdisch beherrschten USA. Daraus entsteht, wie es SPÖ-Bundesgeschäftsführer Norbert Darabos treffend formulierte, eine „abstruse Mischung aus Verschwörungstheorien, Antisemitismus und Antiamerikanismus“. Das Gefährliche dabei: Im „linken Mäntelchen“ sind antisemitische Ressentiments von vielen nicht so rasch als solche zu erkennen.
Das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW) warnte schon vergangenes Jahr vor diesem Phänomen. Das DÖW stellte dabei die „Antiimperialistische Koordination“ (AIK) an den Pranger. Es seien Gruppen wie die AIK, die mit ihrer „antizionistischen Kritik“ den Antisemitismus schüren, so das DÖW. Ihre Gefährlichkeit liege darin begründet, „dass sie im Unterschied zu Rechtsextremen dies jedoch in Abrede stellen und so bei Menschen Gehör finden, welche sich ansonsten solch einer Propaganda verschließen würden“. Die außerparlamentarische Linke in Österreich ist seit dem Irak-Krieg besonders aktiv: Gegen den „imperialistischen und faschistischen Krieg der USA“ formierten sich Gruppen wie die AIK, die Revolutionäre Kommunistische Liga (RKL) oder die Kommunistische Aktion – marxistisch-leninistisch (KOMAX-ML). Ihnen gegenüber stehen nun Anhänger von Café Critique, der Ökologischen Linken Wien oder der Basisgruppe Politikwissenschaft. Fazit des Politologen Anton Pelinka: „Linksradikale Gruppen präsentieren sich derzeit so zerklüftet wie selten zuvor.“ Und: Ein Großteil der antiimperialistisch motivierten Linken laufe Gefahr, gegenüber europäischem und arabischem Antisemitismus blind zu werden.
Antizionismus und Antisemitismus
Die Stoßrichtung dieses neuen, links motivierten Antisemitismus folgt einem Muster: Sie wird als Kritik am Staat Israel getarnt. Am deutlichsten sprach das vergangenes Jahr der Präsident des Rates der jüdischen Institutionen in Frankreich (CRIF), Roger Cukierman, aus. „Der Antizionismus ist die neue Bekleidung des Antisemitismus“, meinte er und warnte vor der neuen „braun-grün-roten Allianz“. Eine Aussage, die in Frankreich eine heftige Debatte auslöste. Grünen-Chef Gilles Lemaire bezeichnete diese Äußerungen postwendend als „unzulässig“.
Aber wo endet berechtigte Kritik am Vorgehen des Staates Israel, und wo beginnen antisemitische Ressentiments?
Die Grenzziehung ist schwierig. Eines scheint klar: „Wenn man aber die Israelis mit den Nazis vergleicht, ist Schluss mit lustig“, sagt der frühere Präsident des European Jewish Congress (EJC), Michel Friedman. Allerdings: Kritik an Israel sei eben nicht gleich Antisemitismus, man müsse genau hinsehen. Eine Berichterstattung etwa, die stets von „jüdischen Siedlern“ spreche, sei problematisch. Denn es handle sich um israelische Siedler. Friedman: „Wir reden zu Recht von Palästinensern und nicht von Muslimen. Der Nahostkonflikt ist ein staatlicher Konflikt zwischen den Palästinensern und den Israelis und nicht ein religiöser Konflikt zwischen Muslimen und Juden.“
Den Versuch einer Grenzziehung unternahm der französische Publizist Pascal Boniface. In seinem Buch „Est-il permis de critiquer Israel?“ (Ist es erlaubt, Israel zu kritisieren?) erklärt der Autor, dass die Gleichsetzung jeglicher Kritik an der Politik der israelischen Regierung mit Antisemitismus abzulehnen sei. Das sei ein „Missbrauch der Opferrolle“. In dieses Horn stoßen hier zu Lande auch die Vertreter der Bewegung „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden – Österreich“, Teil der „European Jews for a Just Peace“. Sie propagieren, dass Kritik an Israel nicht unbedingt Antisemitismus bedeute. In diese Kerbe schlagen auch zahlreiche Kommentatoren – vor allem in konservativ positionierten Zeitungen. So war vergangenen Dezember in der „Neuen Zürcher Zeitung“ zu lesen, dass der Antisemitismus-Vorwurf, der dafür verwendet werde, die israelische Besetzungspolitik vorbehaltlos zu verteidigen, radikal an Glaubwürdigkeit verliere, und zwar auch dort, wo er berechtigt sei, zum Beispiel bei rassistischer Agitation gegen Juden in Europa. Der Verdacht, dass die Konzentration der Medien auf den ungelösten Nahostkonflikt mit „unterschwelligen antisemitischen Motiven“ zu tun haben könnte, müsse als „abstruse Verschwörungstheorie“ qualifiziert werden. Und: „Zu den Voraussetzungen für eine nüchterne Antisemitismus-Diskussion gehört der verantwortungsvolle Umgang mit Fakten, Begriffen und Proportionen.“ Noch akzentuierter formulierte es „Die Zeit“ diesen Februar: Die Beschwörung der Erinnerung an den Holocaust dürfe nicht dazu verleiten, in neuen antijüdischen Stimmungen gleich „eine Wiederholung der finsteren Geschichte des 20. Jahrhunderts zu sehen“. Die Einschätzung jüdischer Organisationen, der Antisemitismus in Europa nähere sich einem Punkt, an dem er so schlimm wäre wie in den Dreißigerjahren, sei „sicher maßlos übertrieben“.
In Österreich hielt der Journalist Michael Fleischhacker dazu vergangenen November in einem Leitartikel für die konservative „Presse“ fest: „Wer ohne Vorbehalte an die Frage herangeht, kann nur zu dem Ergebnis kommen, dass es selbstverständlich unzulässig ist, Kritiker der israelischen Politik pauschal mit dem Verdikt des Antisemitismus zu belegen. Dem steht freilich entgegen, dass viele Exponenten des ‚normalen‘ Antisemitismus dazu übergegangen sind, ihre antisemitischen Ressentiments mit dem Hinweis auf berechtigte Kritik an der gegenwärtigen israelischen Politik zu bemänteln.“
Eines steht jedenfalls fest: Die Diskussion über Antisemitismus hat seit dem Irak-Krieg neue Nahrung bekommen. Und Ressentiments gegen Juden – egal ob von rechts oder links kommend – finden wieder wachsenden Zuspruch. Das belegt eine Reihe von Umfragen und Untersuchungen, die zuletzt publiziert wurden. Am meisten Aufsehen erregte wohl jene europaweite Studie von der Beobachtungsstelle für Rassismus und Antisemitismus der EU (EUMC), die für Monate unter Verschluss gehalten und erst nach medialem Druck veröffentlicht wurde. Nicht von der Einrichtung selbst, sondern von jüdischen Organisationen im Web (siehe Kasten: jüngste Studien zum Antisemitismus).
Der globalisierte Antisemitismus
Aber nicht nur „linker“ Antisemitismus ist verstärkt zu beobachten, sondern auch eine Art „Globalisierung“ des Antisemitismus. Nicht mehr der Jude nebenan, sondern die vermeintliche jüdische Lobby in den USA, die mutmaßliche „zionistische“ Weltorganisation, deren Drahtzieher in Israel und den USA sitzen würden, sind die neuen Schreckgespenster. Der globalisierte Antisemitismus existiert auf neuem, schrecklichem Niveau, von Adolf Hitler entkoppelt. Dieses Phänomen analysierte Daniel Jonah Goldhagen vergangenen Sommer in der „Welt“: „Der Antisemitismus entwickelt sich. Nach einer Zeit der Remission, die dem Schrecken des Holocaust geschuldet war, ist das uralte Vorurteil vor kurzem reaktiviert worden, katalysiert durch den israelisch-arabischen Konflikt. Es ist in eine neue Ära getreten, in der sich der Brennpunkt von den inneren Angelegenheiten hin zum Internationalen verschoben hat.“ Goldhagen weiter: In weiten Teilen von Europa sei das innenpolitische „jüdische Problem“ so gut wie tot. „Der Brennpunkt der Animosität gegenüber Juden hat sich in überwältigendem Maß zu den Juden anderer Länder verschoben: nach Israel und in die Vereinigten Staaten, die angeblich die moralischen und materiellen Hauptverbrecher in der internationalen Arena seien. Für viele ist der Zionismus zu einer mythischen Wesenheit geworden, zu einer zerstörerischen Kraft; und der Antizionismus ist mit dem Antiamerikanismus mittlerweile so weit verwoben, dass nationalistische Politiker in Russland ihre Furcht vor der amerikanischen Vorherrschaft ausdrücken, indem sie sagen, Russland sei in Gefahr ‚zionisiert‘ zu werden.“
Der neue Antisemitismus ist also diffus und schwer greifbar. Er hüllt sich in ein rechtes wie linkes Mäntelchen – je nach Bedarf. Er bedient sich der Denkschulen der Globalisierungstheoretiker genauso, wie er auf Blut- und Bodentheorien zu referieren bereit ist. Vieles lässt sich nicht so einfach in Zahlen von Übergriffen und tätlichen Äußerungen in der Öffentlichkeit ausdrücken. Vieles fällt nicht so drastisch aus, wie vergangenes Jahr das Attentat auf eine Synagoge und das angeschlossene Gemeindezentrum in Istanbul mit vielen, vielen Toten und Verletzten, die man sonst nur von Selbstmordattentätern in Israel „gewohnt“ ist. Was den neuen Antisemitismus ausmacht, lässt sich vielleicht am besten mit den Worten des österreichischen Schriftstellers Robert Schindel ausdrücken: „Er wird unverfrorener.“ Schindel in einem Interview mit dem „Kurier“: „Er wurde nicht stärker, sondern ungenierter, da er ein Antisemitismus ohne Hitler sein kann.“ Dieser Antisemitismus sei „der Hass gegen Israel und alle, die Israel unterstützen – also Juden in der Diaspora. Mit Kritik an Israel, die berechtigt ist, kann ein moderner Antisemit gut den Mund aufmachen und hat das Gefühl, es passiert ihm nichts, weil es nichts mit Auschwitz zu tun hat.“ Die Ausrede laute: Man
Jüngste Umfragen zu Antisemitismus
Besorgnis erregend ist eine Ende Jänner veröffentlichte Umfrage des IPSO-Meinungsforschungsinstituts in neun Staaten Europas, darunter auch Österreich, die vom italienischen Blatt „Corriere della Sera“ in Auftrag gegeben worden war. Demnach waren 46 Prozent der Befragten der Meinung, dass Juden „anders“ seien. 35 Prozent meinten, Juden sollten aufhören, wegen der Shoa „die Opferrolle zu spielen“. Neun Prozent sagten, Juden nicht zu mögen oder ihnen nicht zu trauen. 15 Prozent gaben an, „es wäre besser, wenn Israel nicht existierte“.
Fazit des in Israel lebenden Rabbiners David Rosen vom American Jewish Committee gegenüber der israelischen Zeitung „Haaretz“: Die Umfrage fördert zu Tage, dass der Virus des Antisemitismus beständiger sei als man angenommen habe. So sagten 46 Prozent, Juden hätten „eine andere Lebensweise oder Mentalität“, 40,5 Prozent meinten, Juden hätten „ein besonderes Verhältnis zu Geld“. Als signifikant stufte das Meinungsforschungsinstitut die Korrelation zwischen Judenfeindschaft und antiisraelischen Einstellungen ein.
Im vergangenen November sorgte eine von der EU-Kommission in Auftrag gegebene Eurobarometer-Umfrage für Aufsehen – sowohl auf Grund des Ergebnisses als auch auf Grund der Fragestellung: Demnach sieht die Mehrheit der EU-Bürger in Israel die größte Gefahr für den Weltfrieden. 59 Prozent der EU-Bürger erklärten, Israel bedrohe von allen Staaten am stärksten den Frieden auf der Welt. An zweiter Stelle folgen der Iran, Nordkorea und die USA, die jeweils von 53 Prozent genannt wurden. In Österreich wurden Israel und Nordkorea gleichauf an erster Stelle der potenziell bedrohlichen Staaten genannt. Jeweils 69 Prozent der Österreicher erachteten beide Länder als größte Gefahr für den Frieden. Die USA werden von 63 Prozent der Österreicher als Bedrohung eingestuft, der Iran dagegen nur von 49 Prozent.