Der nächste Klick

Die 31-jährige Leipzigerin Susanne Siegert informiert auf TikTok über den Holocaust und kämpft gegen Antisemitismus. Ihre Videos finden bei vielen Jugendlichen Zuspruch. ©Sebastian Willnow/dpa/picturedesk.com

Von Mark Elias Napadenski

Die Massen organisieren sich – online. Corona, Klimakrise, der russische Angriff auf die Ukraine, der Hamas-Terror vom 7. Oktober, der Krieg in Gaza und das Superwahljahr 2024. Die momentane geopolitische Lage ist angespannt. Und wir erleben, wie sich Jugendliche zunehmend im Internet radikalisieren. Auch in Österreich. Denn die Präsenz radikaler Inhalte und Fake News ist auch hierzulande allgegenwärtig.

Im Zuge des Medienkriegs nach dem 7. Oktober nutzen (Pro-)Hamas-Akteure vermehrt TikTok, um die Stimmung zu eigenen Gunsten durch gezielte Meinungsmache aufzuheizen. Doch nicht nur explizit politische Accounts, sondern auch junge Aktivisten und Aktivistinnen, die Israel vermeintlich moralisch anprangern, verstärken die Riege der antisemitischen Akteure im Netz. Aus harmlos wirkendem „Clicktivismus“ entsteht dann echte Gewalt. Die Generation Z, also zwischen 1997 und 2012 Geborene, scheint wieder politischer zu sein als ihre unmittelbaren Vorgänger, denen oft politisches Desinteresse vorgeworfen wird. Immer mehr politische Organisationen benützen daher Instagram, X und vor allem TikTok.

Bernhard Heinzelmaier, Sozialwissenschaftler und Jugendforscher, betont das Problem des oberflächlichen Informationsverhaltens dieser Generation, das zu einem mangelhaften politischen Verständnis führt. Überraschenderweise ist die Mobilisierung im Kontext des Israel-Gaza-Konflikts besonders in akademischen und studentischen Kreisen effektiv, wo antiimperialistische Tendenzen der Linken derzeit starken Anklang finden. Ein Umfeld, von dem man eigentlich wissenschaftliche Gründlichkeit und Tiefgang erwarten würde. Diese Gruppen, die Israel schon lange als Feindbild zum Fetisch erhoben haben, erleben an Universitäten derzeit eine Renaissance. Heinzelmaier merkt im Gespräch mit NU an, dass der Antiimperialismus – oft in Verbindung mit postkolonialen Studien – durch seine Kritik an westlichen Machtstrukturen und den historischen Auswirkungen auf geopolitische Verhältnisse eine zentrale Rolle in der ideologischen Ausrichtung spielt. In diesem Rahmen können die sogenannten Intifada Camps an Universitäten nicht nur als Ausdruck studentischen Engagements, sondern auch als Teil einer umfassenderen, ideologisch begründeten Bewegung verstanden werden.

Ein Trend, der als „TikTok-Intifada“ bekannt ist, gewinnt dadurch jedenfalls an Fahrt: Propalästinensische Jugendliche nutzen die Plattform zunehmend für politische Mobilisierung und als Ausdrucksmittel gegen Israel. Diese Dynamik zeigt bereits einen Effekt auf die Meinung der unter 30-Jährigen als größte Nutzergruppe der Plattform.

Perfekte Lebenswelten

Eine umfangreiche Studie des US-Thinktanks Pew Research Center vom April 2024 zeigt, dass die Mehrheit der unter 30-Jährigen in den USA sich mit der Seite Palästinas identifiziert. Ein Drittel dieser Altersgruppe sympathisiert ganz oder überwiegend mit den Palästinensern, während lediglich 14 Prozent ihre Sympathie ganz oder überwiegend für Israelis aussprechen. Ältere Amerikaner sympathisieren mit Israel. 60 Prozent der jungen Amerikaner haben eine „bessere“ Meinung gegenüber den Palästinensern als den Israelis. Junge Amerikaner sehen auch den Kampf Israels gegen die Hamas kritisch.

Diese Daten weisen auf ein wachsendes Problem für jüdische Gemeinschaften weltweit hin, insbesondere wenn propalästinensische Haltungen in antizionistische Aktionen umschlagen. Die Zentrale für Politische Bildung in Deutschland, ein bedeutender Akteur in der Analyse und Aufklärung von antisemitismusbezogenen Inhalten im Netz, stellt fest, dass eine neue Welle die Radikalisierung weiter vorantreibt.

Die generierten Inhalte auf Social Media-Plattformen sind eng an die Rezeptionsgewohnheiten und die Lebenswelt der Nutzer angepasst. Das erleichtert die Auseinandersetzung mit diesen Inhalten und fördert eine emotionale Verbindung. Die charakteristischen Merkmale digitaler Kommunikation – zeitliche, räumliche und soziale Entgrenzung, das Fehlen eines direkten Gegenübers, der Zugriff auf Text, Bild und Video sowie die algorithmischen Zuspitzungen von Echokammern – fördern radikalisierende Prozesse. Laut einem aktuellen Verfassungsschutzbericht in Deutschland treten zunehmend auch minderjährige Akteure in Erscheinung, die hier extremistische und gewaltbereite Tendenzen zeigen.

Mit Tanz und Gesang

Das als „TikTokisierung des Islamismus“ bezeichnete Phänomen stellt nach Ansicht des deutschen Verfassungsschutzes eine ernsthafte Bedrohung für die Demokratie dar. Islamisten nutzten die propalästinensischen Proteste von Beginn an für ihre eigenen Zwecke, wobei antisemitische Stereotype als zentrale Mobilisierungswerkzeuge eingesetzt wurden; auch mit dem Ziel, Verbindungen zu nicht-extremistischen Gruppen zu knüpfen. Soziale Medien spielen in diesem Prozess eine zentrale Rolle, indem sie die Grenzen zwischen analoger und virtueller Welt verwischen und als Brücke für die Verbreitung dieser Ideologien dienen, wie der Verfassungsschutzbericht darlegt.

Aber auch rechtsextreme Gruppen nutzen TikTok, um subtil junge Nutzerinnen und Nutzer anzusprechen. Sie bedienen sich moderner Trends und geben sich in ihren Videos bewusst harmlos. Bei scheinbar harmlosem Tanz und Gesang werden ideologische Botschaften gestreut. Die Strategie umfasst den Einsatz jugendnaher Elemente der Social Media-Welt wie GIFs, Memes, populäre Schlagworte und trendige Hashtags. Diese dienen nicht nur der Verbreitung ihrer Inhalte, sondern auch deren Verharmlosung. Ein Beispiel hierfür sind die  „Get Ready With Me“-Schminkvideos: Politisch motivierte Influencer nutzen den Trend, um beiläufig ihre extremistischen Ansichten zu teilen.

Die Online-Radikalisierung und politische Mobilisierung auf Plattformen wie TikTok stellen somit auch auf nationaler Ebene eine ernstzunehmende Herausforderung dar. Es ist daher entscheidend, dass politische Entscheidungsträger in Österreich diese Entwicklungen ernst nehmen und Strategien entwickeln, um ein kritisches Medienbewusstsein zu fördern und die demokratische Integrität sowie den sozialen Zusammenhalt zu schützen.

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