Robert Lettner ist eines der jüngsten österreichischen Opfer des Nationalsozialismus. 1943 im Lager Gurs in Südfrankreich geboren, hat er das Erbe seiner gegen die Naziherrschaft kämpfenden Eltern auf sich genommen. Er ist der große Maler des Widerstands in einem Land, das auf Anpassung und bedingungslosen Konsens aufgebaut ist.
Von Peter Menasse
Wir kennen die Szene aus französischen Filmen der 40er und 50er Jahre des 20. Jahrhunderts: An einem Holztisch in einer Pariser Hinterhofwohnung sitzen die Revolutionäre beieinander, rauchen ihre Gauloises oder Gitanes, blaugraue Schwaden liegen in der Luft. Sie diskutieren heftig die neuesten politischen Entwicklungen, schütteln die Fäuste, schlagen energisch auf den Tisch. Mitten in einer solchen Filmsequenz über den Spanischen Bürgerkrieg, den französischen Widerstand, Nazilager und Befreiung, beginnt die kindliche Erinnerung von Robert Lettner – und die Szene sollte prägend für sein ganzes Leben werden.
Geboren wurde der heute in Wien lebende Maler 1943 im Lager Gurs in Südfrankreich. Dieses Lager im Vichy-Frankreich beherbergte eine tragische Mischung von badischen Juden, die zuerst aus ihrer Heimat nach Süden, später von dort in die Vernichtungslager des europäischen Ostens verschleppt wurden. Roberts aus Deutschland gebürtiger, jüdischer Vater überlebte den Krieg im Lager und wanderte 1945 nach Kanada aus. Von seiner Existenz sollte Robert allerdings erst als erwachsener Mannerfahren. Dann gab es da politische Häftlinge, wie Roberts Mutter, eine Kölnerin, die ihren Antifaschismus stets lautstark verkündete, darum auch aus ihrer Heimatstadt hatte flüchten müssen, um dann in Brüssel in die Hände der Nazihäscher zu geraten.
Und schließlich waren da noch die Spanienkämpfer, wie Fritz Lettner, bei dem Robert aufwuchs und den er lange für seinen leiblichen Vater gehalten hat. Fritz Lettner war einer der Helden der Republikaner im großen spanischen Kampf gegen den Faschismus. „Le Petit“, den Kleinen, nannten sie ihn, den zwei Meter großen Mann, der sich freiwillig den Internationalen Brigaden angeschlossen und hinter den feindlichen Linien Brücken, Straßen und Strommasten gesprengt hatte. Es war ein Leben in ständiger Todesgefahr, aus dem der „Riese“ Fritz Lettner nach verlorenem Krieg 1939 in einer Bergtour über die Gipfel der Pyrenäen abgemagert auf knapp fünfzig Kilogramm nach Frankreich entkam, wo man ihn – wie seine Mitkämpfer auch – in das Lager Gurs steckte.
Fritz Lettner stammte aus einer Familie von Landarbeitern, die es mit der zunehmenden Industrialisierung um 1900 in die Stadt Salzburg verschlagen hatte. Fritz absolvierte eine Lehre als Metallarbeiter, die ihm zwar keinen Job im krisengeschüttelten Österreich einbrachte, aber zusammen mit seinem Hobby, dem Bergsteigen, die ideale Voraussetzung für den Einsatz im Kampf gegen die Faschisten bildete. 1946 saßen sie zusammen, die Widerstandskämpfer aus der Résistance, die Helden aus Spanien und all die anderen befreiten Antifaschisten, in einer kleinen Hinterhofwohnung in Paris und besprachen die Weltlage.
Ein Bild der Sicherheit, des Sieges, der Lebensfreude für das Kind Robert Lettner, das bald abgelöst werden sollte vom Österreich der frühen 50er Jahre in der Provinz. Die Lettners kehrten nach Salzburg zurück und Robert erlebte eine Welt, die er nicht weiter beschreiben braucht, wenn man nur Thomas Bernhards Kindheitserinnerungen gelesen hat. Aus dem Geburtsort auf seinen Urkunden wussten die strammen Nazilehrer, die eben noch die Hitlersche Ideologie gelehrt hatten und vom neuen, demokratischen Österreich in Bausch und Bogen übernommen worden waren, dass es sich um ein „Feindkind“ handeln musste. Robert müsste eigentlich an der Welt verzweifeln, in einer Grundschule, in der er diskriminiert und wie ein Aussätziger behandelt wird. Doch er nimmt sich die Mutter zum Vorbild und deren Credo: „Man muss als Person zu seiner Position stehen, alles andere ist Ausdruck einer unterentwickelten Kultur.“ Und so wird Robert Lettner ein Widerständiger in einem Land, in dem der falsche Konsens, die schokoladensüße Lüge zum Identitätsmerkmal wird, in dem Kritiker „Nestbeschmutzer“ genannt werden und Bürgerstolz nur in Geschichten über Andreas Hofer noch schwach flackernd überlebt.
Die nächsten Stationen seines Lebens waren der Umzug nach Wien 1953, wo er im zweiten Bezirk endlich auch Kinder kennen lernt, deren Familien ein ähnliches Schicksal erlitten hatten wie die seine. Diese Kinder aus der jüdischen Emigration wurden seine Freunde, man ging gemeinsam in Jugendorganisationen der Linken und wurde politisiert. Robert begann 1958 eine Lehre im grafischen Gewerbe und entwickelte bereits als junger Arbeiter in der Druckerei seine Liebe zur Malerei. Noch als Kind in Salzburg hatte er oft in Theateraufführungen gehen können, weil seine Eltern als Journalisten Freikarten nach Hause brachten. „Wie man den Jedermann anlegt, habe ich mir vorstellen können.
Aber wie die Fresken zustande kamen, von denen Salzburg so voll war, das stellte sich mir als ein unbegreiflicher Zauber dar, als ein Geheimnis, auf dessen Spur ich kommen musste,“ erinnert sich Robert an die Faszination von Bildern und Formen. Er besucht also in Wien Ausstellungen und Museen und schreibt sich schließlich für einen Lehrgang bei der legendären Leiterin der Künstlerischen Volkshochschule Gerda Matejka-Felden ein. Wenn Robert Lettner in den Unterricht in das Gebäude der Akademie für Bildende Kunst am Schillerplatz ging, sah er die Kunststudenten die Treppe nach oben verschwinden, während er zu seinem Kurs in den Keller zu gehen hatte.
Eines Tages, so schwor er sich, würde er auch dort hinaufsteigen, wo er das Paradies der Maler vermutete. 1964 war es dann so weit, Lettner bewarb sich um die Aufnahme an der Akademie und wurde von der Jury prompt abgelehnt. Er ging mit seiner Mappe unter dem Arm am Rektorat vorbei, drehte um und marschierte in das Büro des Rektors Herbert Boeckl. Ob er wenigstens am Abendakt teilnehmen dürfe, fragte er den berühmten Maler, worauf dieser die Mappe ergriff, die Probearbeiten durchblätterte und den jungen Mann mit den Worten „Die sind ja alle deppert“ doch noch zum Studium zuließ. Robert besuchte also die Meisterklasse bei Franz Elsner, den er als Person, nicht jedoch als Maler schätzte. Als der Professor in eines seiner gerade im Entstehen begriffenen Bilder hineinmalte, aktivierte er seinen Widerstandsgeist und hieß den Lehrer, seine Kommentare doch auf ein eigenes Blatt und nicht mitten in seines hineinzuzeichnen. Daraufhin forderte Elsner ihn auf, aus seiner Klasse zu verschwinden, was Robert mit der Bemerkung „Hier lerne ich was, und im Winter ist es warm, ich bleibe also“ quittierte. Elsner stellte seine Betreuung ein, ließ aber den talentierten Studenten weitermachen.
Am Ende des Studiums, inzwischen war das Jahr 1967 angebrochen, lud er ihn ein, zu einem Treffen von Künstlern nach Prag mitzukommen, wo der Prager Frühling ein kurzes politisches Tauwetter hatte aufziehen lassen. Lettner war erstaunt, warum gerade ihm diese Ehre zuteil wurde, was Elsner mit den Worten erläuterte: „Nehmen Sie es als persönliche Wertschätzung. Öffentliche Anerkennung werden Sie mit ihrem Widerspruchsgeist ohnehin nie bekommen.“
Am Anfang der künstlerischen Karriere des frisch gebackenen akademischen Malers schien die Prophezeiung seines Lehrers nicht aufzugehen. Oswald Oberhuber, der große Förderer der jungen österreichischen Kunst, brachte ihn in die von Monsignore Otto Maurer geleitete Galerie nächst St. Stephan. Seine erste Ausstellung trug den romantischen Titel „Tagträume“ und war doch konsequent dem Thema Widerstand gewidmet.
Lettner will den Widerstand nicht abmalen, ihn nicht zum Gegenstand des Bildes machen, sondern mit seiner Malerei in den Menschen jene Sehnsüchte wecken, die Hoffnung geben und stärken für den Kampf gegen die Enge und das Verhindern. Wer Visionen hat, lernt für sie einzutreten, so das Credo des jungen, unangepassten Künstlers der späten 60er Jahre, der so zornig spricht und so ästhetisch malt.
Robert erinnert sich an die Zeit des gemeinsamen Aufbegehrens gegen autoritäre Gesellschaftsstrukturen und die Regeln der Konsumgesellschaft in zweierlei Hinsicht. In der Familie kam es im Gefolge der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten zu erbitterten Auseinandersetzungen. Fritz Lettner war durch seine Geschichte ein für alle Mal zum Stalinisten geworden, während die Mutter sich nicht halten ließ, das Unrecht des Systems zu durchschauen und zu thematisieren. Robert hatte sich längst sein Bild gemacht. Die Ablösung der revolutionären Kunstäußerungen aus den 20er Jahren durch den „Sozialistischen Realismus“ ließ ihn erkennen, dass autoritäre Herrschaft und die, wie er sie nennt, „akademische bürgerliche Lüge“ sich durchgesetzt hatten.
Zehn Jahre später, 1978, stellte Robert das letzte Mal in der Galerie nächst St. Stephan aus. Er befasste sich in seiner Arbeit „Smile Baby Smile“ mit der Aufarbeitung der RAF. Das war zu dieser Zeit ein undenkbares Unterfangen, ein Tabu, das in Deutschland erst heute zögerlich berührt werden kann. Robert Lettner spürte nie die „klammheimliche Freude“, die manche Linke bei den Gewalttaten der RAF empfanden. Dem Sohn von Eltern, die für ihre Ziele im politischen Widerstand gekämpft hatten, waren die „Revolutionäre“ der 68er-Bewegung nichts als Desperados, die ihre Auseinandersetzung mit der Sozialisation in ihren kleinbürgerlichen Familien durch nach außen gerichtete Gewalt führten, ohne jede Verbindung zur Bevölkerung, deren Anliegen sie durchzusetzen behaupteten. In einer Serie von Porträts der 68er-Generation zeigt er sie alle mit einem Lächeln auf den Lippen, das – wenn die Bilder nebeneinander hängen – zu einer tiefen Traurigkeit gerinnt. Zur gleichen Zeit malte Lettner zu diesem Thema auch polemische Bilder von den Waffen der RAF. Der Widerspruch zwischen der tödlichen Gefahr und ihrer Chancenlosigkeit zeigt sich in Stillleben von selbst gebastelten Sprengkörpern und Handgranaten. Aus dem Jahr 1973 stammt ein anderes Bild, das Roberts Verzweiflung über seine angeblichen Genossen im Widerstand zeigt. Im „Schweinchen- Bild“ drängt sich eine Gruppe von Schweinen am Futtertrog, darüber sieht man die roten Fahnen wehen.
Die Bewegung der Kreativität, als die er die Zeit von 1968 verstanden hatte, wurde verraten von den Bonzen, denen die politische Öffnung nur zum Sprungbrett für ihre Karrieren diente. „Immerhin“, meint Lettner, „hat die konservative Kulturpolitik dreißig Jahre gebraucht, um sich wieder zu sammeln. Jetzt erst kommt es zu Einschränkungen der Demokratie und das Bürgertum zeigt wieder seine autoritären Zähne.“
In den nächsten Jahrzehnten malt Lettner Sehnsüchte in Form von Blumenbildern. Er befasst sich intensiv mit Strukturen in der Malerei, es entstehen strenge „Balkenbilder“ und aus derselben Auffassung über Struktur heraus Landschaften, die scheinbar nichts mit der kühlen Distanziertheit der Balken zu tun haben und doch äußere Spiegelungen zu den inneren Vorgängen, Reflexionen des immer gleichen Anliegens sind: die Möglichkeiten und Sehnsüchte der Menschen ästhetisch zu zeigen, um ihnen Mut für den Widerstand gegen die Kleinmütigen zu geben.
In der Waldheim-Zeit entsteht ein anderes Schlüsselbild des politischen Ästheten. An einer U-Bahn-Station entdeckt er die mit Bleistift hingekritzelte Aufschrift: „Jud raus“ und er hält dieses Motiv des wieder aufflackernden Antisemitismus auf der Leinwand fest. Lettner, der sich intensiv mit dem Ornament auseinander setzt, sieht die zittrige Inschrift als einen Code, der in so vielen steckt und immer wieder herausgeholt, aktiviert wird. „Ich war betroffen, dass sie sich wieder so frech zu agieren trauten und gleichzeitig konnte ich aus der Form der Aufschrift erkennen, dass der Schreiber verkehrt zur Mauer gestanden haben muss, immer in der Angst, entdeckt zu werden.“ Lange hat Robert das Bild und seine eigene Betroffenheit im Hinterstübchen seines Ateliers behalten und das Werk dann erst vor kurzem einem Sammler verkauft.
Inzwischen hat Robert Lettner den 60. Geburtstag gefeiert. In seinem Atelier und in verschiedenen Lagern liegt sein riesiges künstlerisches OEuvre. 37 Jahre intensiver Arbeit haben tausend bis zweitausend Bilder, Grafiken und Entwürfe entstehen lassen.
Der Maler Lettner ist seinem, im Zigarettenrauch der Pariser Wohnung aufgesogenen Widerstandsgeist immer treu geblieben. Er bietet sich den Galeristen nicht an, die jemanden wie ihn nicht einordnen können. Er zögert nicht, seine Meinung zu sagen, auch wenn sie nicht opportun ist, und er bleibt doch in Wien, weil er nur hier den kreativen Widerspruch zu finden meint, den er für seine Arbeit braucht. In seinen Vorlesungen an der Hochschule für Angewandte Kunst spricht er mit den Studenten über das Phänomen der Angst. Nur wer keine Angst hat, so seine These, könne im Widerstand leben. Die jungen Leute fragen ihn dann, wie das denn ginge, Angst abzubauen, und Lettner versteht, dass sie ihn fragen, denn so etwas würde hierzulande in den Familien und an den Schulen ja kaum gelehrt.
Robert Lettner hat nicht alle Anerkennungen erhalten, die einem Visionär wohl anderswo zukämen. Er lacht darüber, ein stets spitzbübisches Lachen, das ihm niemand nehmen konnte. „Fürchte dich vor den Mittelmäßigen“, sagt er zu Österreich, „denn sie sind erbarmungslos“, und vermittelt dabei den Eindruck, dass er gar nicht wisse, was Furcht ist.
Im Café Prückl, seinem verlängerten Wohnzimmer, frage ich ihn, ob sein Leben ein Kampf gegen die Angst gewesen sei. Diesmal antwortet er ohne Lächeln: „Ich habe erst jetzt den Eindruck, dass ich das Frösteln, das ich ein Leben lang in mir herumgetragen habe, zu beherrschen lerne. Es wäre meine größte Leistung, die ich mit meinem Widerstand herstellen könnte, wenn ich mich von diesem Frösteln befreie. Ich spüre immer noch die Fremde hier in meinem Heimatland. Eines Tages aber, wenn ich das Frösteln überwunden habe, werde ich ein berühmter Maler sein.“