Wie konnte der jüdische Antifaschist Erich Fried, dessen Geburtstag sich im Mai zum hundertsten Mal jährte, mit dem Neonazi Michael Kühnen befreundet sein? Ein Kenner der Neuen Rechten sucht in einem Buch nach Antworten – auch für die politische Gegenwart.
Von Anne-Catherine Simon
Am 23. Jänner 1983 sollen ein Neonazi und ein jüdischer Antifaschist in der deutschen TV-Talkshow III nach 9 aufeinandertreffen. Der Neonazi wird im letzten Moment wieder ausgeladen, was er erst bei seiner Ankunft erfährt. Die Diskussion findet ohne ihn statt, aber mit geändertem Thema, es geht um die Ausladung, um den Umgang mit Rechtsextremen: Soll man mit ihnen reden, sie öffentlich reden lassen? Und der jüdische Antifaschist, der seine Großmutter in Auschwitz verloren hat und dessen Vater an den Folgen der Misshandlungen durch die Gestapo verstorben ist, sagt: Man soll. Die Ausladung sei „falsch und kleinkariert“.
Schon diese Geschichte wäre heutzutage wert, erinnert zu werden. Doch das noch weit Bemerkenswertere geschah danach. Der aus Wien stammende Dichter Erich Fried, mit seiner politischen Lyrik damals unter Linken eine moralische Autorität und ungeheuer beliebt, verteidigte Deutschlands bekanntesten Neonazi Michael Kühnen nicht nur. Zum Entsetzen vieler Fans schloss er Freundschaft mit ihm.
Über diese Freundschaft hat der deutsche Kultursoziologe Thomas Wagner sein Buch Der Dichter und der Neonazi geschrieben. Es würde den 100. Geburtstag des in Wien geborenen und aufgewachsenen Dichters als Anlass dazu nicht brauchen. Denn diese Beziehung, Frieds Haltung dazu und die Kontroverse rund um sie führen tief in die Gegenwart und die Frage: Wie mit politischen Gegnern reden, vor allem mit solchen, die extreme Positionen vertreten? Selektiv und sloganhaft verkürzt: Mit „Rechten“ reden? Wagner, der mit Die Angstmacher ein großartiges Buch über die Neue Rechte und ihre teils linken Ursprünge geschrieben hat, geht das Thema also nun von dieser historischen Seite an.
Hitlers Muttertagsgedicht
War es wirklich Freundschaft? Er halte das Wort angesichts der „so großen emotionalen Nähe“ zwischen den beiden für adäquat, schreibt Wagner. Der Ton in den erhaltenen Briefen sei „vertraulich, bisweilen unerwartet warm und herzlich“. 16 sind erhalten, sie liegen im Erich-Fried-Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Acht von Fried, acht von Kühnen. Es ist eine Art „Adoption“, meint Wagner, die Fried hier versucht, er nimmt gegenüber dem 34 Jahre Jüngeren, bald wieder Inhaftierten eine väterliche Haltung ein, versucht auf der Beziehungsebene eine Brücke zu schlagen, vielleicht auch, um Kühnens Haltungen überhaupt auszuhalten, ohne das Weite zu suchen. „Ich frage mich, wie ich argumentieren wollte, wenn einer von meinen Söhnen so etwas geschrieben hätte.“ Beide bescheinigen einander idealistische Motive. Sogar ein Gedicht („Um Klarheit …“) widmet Fried „M.K.“.
Kühnen wiederum schickt Fried einmal ein von Hitler verfasstes Muttertagsgedicht. Seine Hitlerschwärmerei hatte religiöse Züge, für ihn war an allem Bösen nur die SS schuld, und dass es eine systematische Judenvernichtung gegeben hat, bestritt er.
Gymnasialerfahrungen
Warum tat Fried sich das an? Thomas Wagner sucht Gründe für Frieds Haltung, unter anderem in dessen Werdegang, beginnend mit der Schulzeit im Wiener Wasa-Gymnasium. Dort herrschte ideologisches Durcheinander, rund die Hälfte seiner Mitschüler gehörten laut Fried zur illegalen HJ. „Ich glaube, dass das nicht wesentlich schlechtere oder dümmere Jungen waren“, so Fried. Sie saßen neben jüdischen Mitschülern, begeisterten Jungsozialisten.
Und Wagner erinnert an die Geschichte, die Fried über seinen Banknachbarn, den begeisterten Hitlerjungen Papanek, erzählte: Der war demnach verzweifelt, weil er in ein jüdisches Mädchen verliebt war (und sie der NS-Ideologie zufolge nicht heiraten konnte). Das Problem löste sich, als seine getauften Eltern ihm eröffneten, dass sie jüdische Wurzeln hatten. Daraufhin sammelten seine HJ-Freunde Geld für ihn, damit er mit seiner Liebsten nach England gehen könne, und veranstalteten für ihn eine Abschiedsfeier.
Gegen die „Fühllosigkeit“
Was immer man von derlei biografischen Erfahrungen halten mag, Fried lebte jedenfalls konsequent eine Grundhaltung: Vieles sei Verirrung statt Bösartigkeit, und es hänge von „unwägbaren Dingen“ ab, in welche Richtung sich ein Mensch bewege. Man müsse in jedem Gegner, in jedem Verbrecher den Mitmenschen suchen. Und die Aufarbeitung von Schuld sei nur möglich, wo es auf der anderen Seite Verständnis, ja Liebe gebe.
Dieser Humanismus war tief von Psychoanalyse und christlicher Nächstenliebe beeinflusst, vielen muss er naiv erscheinen. Fried sah die Suche nach dem Gespräch jedenfalls als „Teil seines antifaschistischen Kampfes“ (Wagner). Die „Fühllosigkeit“, die dazu führe, den anderen nur noch schablonenhaft wahrzunehmen: Davon redete er schon bei der Tagung der „Gruppe 47“ 1966 in Princeton, ebenso wie 1981 auf dem Ersten Österreichischen Schriftstellerkongress.
Es gab natürlich politische Berührungspunkte zwischen Kühnen und dem Ex-Kommunisten und oft radikalen Linken Fried, wie sie auch heute zwischen radikalen Rechten und radikalen Linken bestehen – den Antikapitalismus etwa oder die Totalopposition zu Israel und Nato. Doch das hatte kaum Bedeutung angesichts des Trennenden: vor allem Kühnens Überzeugung, es habe keine systematische Judenvernichtung gegeben, Frieds Großmutter sei nicht vergast worden.
Fried starb 1988, Kühnen 1991. Den Memoiren von Frieds Frau zufolge glaubte Fried am Ende, Kühnen habe „sich der Realität des Holocaust“ gestellt. Kühnens letzte Briefe sprechen dagegen, und bis zuletzt betätigte er sich als militanter Neonazi. Was hätte Fried wohl getan, hätte er das gewusst?
Thomas Wagner
Der Dichter und der Neonazi
Erich Fried und Michael Kühnen – eine deutsche Freundschaft
Klett-Cotta, 2021
176 S., EUR 20,60,–