Österreichs Fußball wurde nachhaltig von Juden geprägt. Aber der jüdische Fußball wurde hierzulande immer auch verfolgt, wie alles Jüdische. Heute gibt es ihn nicht mehr in Österreich. Aber das fällt wohl nur dem auf, der sich zurückerinnert.
Von Peter Menasse
Der jüdische Schriftsteller Friedrich Torberg war ein Schönschreiber. Selbst als Wasserballer Mitglied des 1909 gegründeten jüdischen Sportvereins Hakoah, berichtet er über ein Spiel der Fußballsektion auf einem Sportplatz in Wien-Brigittenau in den 1910er Jahren. Der Linksaußen der Hakoah, Norbert Katz, hatte sich durchgetankt und lief auf das gegnerische Tor zu. Ein Zuschauer wollte ihn gebührend anfeuern, wusste aber seinen Namen nicht. Torberg erzählt, wie dieser Mann das Problem löste: „Die übliche Bezeichnung, die er für Juden parat hatte, nämlich Saujud, schien ihm in diesem Augenblick doch nicht recht am Platz. ‚Hopp auf!‘, brüllte er also und nochmals ‚Hopp auf!‚, und dann kam ihm die Erleuchtung. Sein nächster Zuruf lautete: „Hopp auf, Herr Jud!“
Eine schöne Geschichte, versöhnlich, freundlich, ganz Torberg. In den 1950er Jahren spielte mein Onkel Hans Menasse als Rechtsaußen für die damals erstklassige Vienna (1955 war der Verein österreichischer Meister). Nach einem verlorenen Spiel auf der Hohen Warte hörte ich einen Mann vor mir sagen: „Der Scheißjud hat auch nichts zusammengebracht.“ Eine ganz und gar nicht Torberg’sche Geschichte, aber eine stimmige. Wenige Jahre nach dem Holocaust ließ man in Wien wieder, oder immer noch, ungehemmt die Sau raus. Der Herr hat übrigens von der hinter ihm gehenden Menasse-Familie einen Regenschirm übergezogen bekommen.
First Vienna Football-Club
In den 1920er Jahren, vor der großen Judenvernichtung, war die Stimmung noch bedeutend aggressiver. Jüdische Fußballspieler wurden beschimpft, oft auch absichtlich verletzt, in der Sportpresse verhöhnt und verspottet. Dabei interessierte nicht, dass Juden dem österreichischen Fußball viel von seinem Image und seiner Kultur gegeben haben. 1894 wurde der „First Vienna Footballclub“ im Gasthaus „Zur schönen Aussicht“ gegründet. Franz Joli, der Sohn eines Mitarbeiters von Baron Nathaniel Rothschild, hatte nach einem Aufenthalt in England die Idee, in Wien Fußballwettspiele zu veranstalten. Gemeinsam mit Rothschilds englischen Gärtnern gründete er den Verein, der vom Baron finanziert wurde und der auch – bis heute – die Farben des Hauses Rothschild, nämlich Blau und Gelb, trägt.
Körper aus Stahl – Hedad Hakoah
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der gestählte menschliche Körper zum Goldenen Kalb einer männlich dominierten Gesellschaft. Das Denken war stark von der Entwicklung der noch neuen, großen Industrie beeinflusst. Erstmals ersetzten mächtige Maschinen die menschliche Arbeits- und Muskelkraft und ließen bei den Menschen ein Gefühl der Inferiorität entstehen, dem der Kult des Körpers entgegengesetzt wurde. Alle Parteien, nicht nur die rechtsradikalen, präsentierten sich mit Symbolen der männlichen Stärke. Auf Gemeindebauten des Roten Wien aus den 1920er Jahren lassen sich entsprechende Wandbilder noch häufig finden. Auch die jüdische Bevölkerung wollte ihre Wehrhaftigkeit und Kraft unter Beweis stellen. In einem Aufruf zum Beitritt in einen jüdischen Sportverein des beginnenden 20. Jahrhunderts hieß es: „Heran, ihr Brüder, tretet an! Kopf hoch, die Brust geweitet! Das ist kein jüdischer Turnersmann, der krumm und kraftlos schreitet. Vergessen Sorg’ und Alltag sei, ein Turnerherz schlag’ leicht und frei. Wir sind des Frühlings junge Saat: Hedad! Hedad!“ Würde man das Wort „jüdisch“ ersetzen und die Schlussworte mit dem hebräischen „Hedad“, also „Hoch“, entfernen, könnte das gut und gerne das Leitgedicht eines nationalen Turnerbundes sein. Juden wollten zeigen, dass die antisemitischen Zuschreibungen, sie seien schwächlich und degeneriert, falsch waren und organisierten sich in Sportvereinen. Einer davon war die oben erwähnte Hakoah (zu Deutsch „Kraft“). Die Fußballsektion entwickelte sich nach anfänglichen Schwierigkeiten zu einem Spitzenverein und wurde im Jahr 1925 österreichischer Meister. Die Spieler Scheuer, Fried, Häusler, Neufeld und Wortmann schafften in den Jahren 1923 bis 1926 sogar den Sprung in die Nationalmannschaft. Und noch ein schönes Stück jüdische Erinnerung für den österreichischen Fußball: 1923 gelang Hakoah als erstem Team vom Kontinent ein Sieg gegen eine Spitzenmannschaft aus England, dem Mutterland des Fußballs. West Ham United aus London wurde gleich mit 5:0 abgefertigt.
Hakoah Wien, der einst größte jüdische Sportverein, wurde 1938 aufgelöst. Sagte man noch in den 1920er Jahren mit dem seltsamen Witz des antisemitischen und doch so jüdisch geprägten Wien: „Wenn die heute gewinnen, gibt’s ein Pogrom“, so wurde das mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten zur völlig humorlosen, mörderischen Realität.
Das Schmieranski-Team
Eine der großen Geschichten des österreichischen Fußballs datiert aus dem Jahr 1931. Der jüdische Teamchef der Nationalmannschaft, Hugo Meisl, warf wartenden Journalisten, die ihn über Wochen wegen seiner Aufstellungen kritisiert hatten, einen Zettel hin und sagte: „Da habt’s euer Schmieranski-Team.“ Diese Mannschaft schlug in der Folge eine Nationalmannschaft nach der anderen und erreichte 1932 an der Stamford Bridge zu London ein 3:4 gegen England, den großen Lehrmeister des Fußballs, der bei diesem Spiel erstmals von einem Gegner an den Rand einer Niederlage gebracht wurde. Die Siegesserie endete erst 1933 und gehört zu den unvergesslichen Höhepunkten des österreichischen Sports. Die Widersprüchlichkeiten der österreichischen Gesellschaft der 1930er Jahre in Bezug auf die Juden lässt sich daran zeigen, dass Hugo Meisl in seinem Wunderteam Spieler wie Matthias Sindelar und Karl Rainer hatte, die beide später Eigentum von vertriebenen Juden für sich in Besitz nahmen, also Teil des Nazi-Raubzugs wurden.
Karl Rainer war Verteidiger bei der Vienna und damit ein Nachfahre der vom Juden Rothschild gesponserten ersten österreichischen Fußballer. Und er war Vorfahre von Hans Menasse, der seiner jüdischen Herkunft wegen als Kind gemeinsam mit seinem Bruder vor der Nationalsozialisten nach England fliehen musste und nach seiner Rückkehr zum Stammspieler bei der Vienna wurde. Die Familie Menasse hatte in der Döblinger Hauptstraße gewohnt, waren aber 1938 ihrer Wohnung beraubt und in eine „Judenwohnung“ im zweiten Bezirk umgesiedelt worden. Just dem verdienten Nationalteamspieler Karl Rainer wurde die Wohnung im Zuge einer so genannten Arisierung zugesprochen. So wurde aus dem rechten Back des Wunderteams ein recht braver Mitläufer des Systems.
Antifaschistischer Widerstand auf Österreichisch
An Matthias Sindelar lassen sich die Besonderheiten österreichischer Geschichtsaufarbeitung deutlich zeigen. Der Schönschreiber Friedrich Torberg hatte nach dem Krieg Österreichs vermutlich bestem Fußballer aller Zeiten einen Hymnus gewidmet, der ihn zu einem antifaschistischen Helden und Widerstandskämpfer machte: „Auf den Tod eines Fußballers.“ Generationen von Fußballanhängern, vor allem jene der Wiener Austria, glaubten an Sindelar als einen, der sich mutig gegen die Nazis gewehrt und sich ihnen nie gebeugt hatte. Tatsächlich war bekannt, dass er 1939 gemeinsam mit seiner Geliebten in einer Wohnung in der Wiener Annagasse an einer Rauchgasvergiftung gestorben war. Was mit großer Wahrscheinlichkeit ein Unfall durch eine undichte Gasheizung war, ließ sich gut in einen Selbstmord als Flucht vor den Nazis umdeuten.
Im Jahr 2003 wurden der Zeitschrift NU Dokumente übergeben, die einen ganz anderen, wenig erfreulichen Zugang zu Matthias Sindelar eröffneten. Im NU 14 (siehe www.nunu.at) kann man nachlesen, wie der Wunderteam-Stürmer das Kaffeehaus Annahof, das seinem jüdischen Besitzer Leopold Drill von den Nazis abgezwungen worden war, zu einem Spottpreis übernommen hatte. Auch wenn Sindelar nicht Parteigänger der Nationalsozialisten gewesen sein dürfte, hat er doch bei dieser „Arisierung“ mitgemacht und, wie das Fotomaterial zeigt, im geraubten Besitz des später im Konzentrationslager ermordeten Leopold Drill Hof gehalten.
Etwa zur gleichen Zeit, als dieser Artikel in NU erschien, tagte eine von der Stadt Wien eingesetzte Kommission, die Vorschläge machen sollte, welche der von den Nationalsozialisten seinerzeit verliehenen Ehrengräber aberkannt und welche beibehalten werden sollten. Statt die Chance zu ergreifen, anhand dieser Geschichte eines populären Sportlers aufzuzeigen, dass es neben den Tätern und den Opfern auch noch die willigen Profiteure gegeben hat, beließ man Sindelar sein Ehrengrab. Auf der Homepage der Stadt Wien lesen wir: „Ehrengräber sind Teil der Kulturgeschichte Wiens.“
Die Judenclubs – Mythos und Realität
Mit der Ermordung der überwiegenden Zahl der Juden zwischen 1938 und 1945 ging auch die Geschichte des jüdischen Fußballs in Österreich zu Ende. Er lebt nur noch als Mythos weiter. So gilt die Wiener Austria auch heute noch als der „Judenclub“, weil sie vor dem Krieg nachhaltig von jüdischen Funktionären und Spielern geprägt war. Der Verein wurde 1938 denn auch unter „kommissarische Leitung“ eines nationalsozialistischen Funktionärs gestellt. Der gesamte Vorstand und viele Spieler emigrierten oder wurden Opfer der Nazis. Einer der größten Spieler der Wiener Austria war im Übrigen der erwähnte Matthias Sindelar.
Auch wenn der jüdische Fußball in Österreich im wahrsten Sinne des Wortes tot ist, so lebt er doch anderswo weiter, zum Teil als Mythos, zum Teil als Realität. Zwei internationale Großclubs gelten als „Judenvereine“. Es sind das Ajax Amsterdam in Holland und die Tottenham Hotspurs aus England. Ajax hatte nach dem Krieg einige jüdische Spieler und wurde dann in den glorreichen 1970er Jahren von Jaap van Praag, der selbst die deutsche Besetzung von Amsterdam in einem Versteck überlebt hatte, als Vereinsvorsitzender geleitet. Auch weil Ajax sein Stadion direkt neben einem jüdischen Wohnviertel hat, wurden die Spieler immer wieder als Juden „beschimpft“. Als Reaktion darauf entstand eine philosemitische Fanszene, die sich mit Israel-Fahnen schmückt und stolz zu dieser Identität steht.
Ein ähnliches Phänomen gibt es bei den Tottenham Hotspurs in London. Auch hier tragen die Anhänger die Farben Israels und begegnen damit der nicht wirklich nachvollziehbaren Einordnung als „Judenclub“. Der deutsche Stürmer Jürgen Klinsmann, der 1994 für den Verein spielte, wurde von den Anhängern mit einem fein gedichteten Choral besungen: „Chim chiminee, chim chiminee, chim chim cheroo, Jürgen was a German, but now he is a Jew.“
Nicht als Mythos, sondern als Realität lebt der jüdische Fußball in Israel und das bedeutend erfolgreicher als der nationale Fußball hierzulande. Das blau-weiße Team ist nur knapp an der Qualifikation zur Europameisterschaft 2008 gescheitert. Es rangiert in der FIFA-Rangliste weit vor Österreich, das als Gastgeber ohne vorherige Qualifikation teilnehmen durfte. Die Spieler des Wunderteams von Hugo Meisl hätten sich wohl kaum vorstellen können, dass die Wüstenkinder sie im Fußball dereinst überholen könnten. Oder anders gesagt: Da würde sich wohl selbst Matthias Sindelar am liebsten aus seinem Ehrengrab herausdrehen.