Nicht alle Heimkinder waren von dieser Gewalt betroffen, aber manche besonders. In einem „Befund“ eines Heimpsychologen steht: „dunkelhäutig, fremdrassig (Zigeuner), aus Verwahrlosungsmilieu stammend, unterbegabt“. Als „Zigeunerkind“ war man für die Erzieher wie für die anderen Kinder gewissermaßen „vogelfrei“.
Das Leben nach dem Heim
Alfred* ist 50 Jahre alt. In seinen 18 Heimjahren erlebte er alle Formen – körperliche, psychische und sexuelle Gewalt. In einem der Heime waren noch in den 1960er-Jahren Nazirituale Teil des Alltags: Zum Stechschritt mussten Nazilieder gesungen werden. Richard* ist um zwei Jahre älter. Ins Heim ist er wegen Schulproblemen gekommen. „Es war die Hölle“, fasst er seine Erinnerungen zusammen. Irgendwann ist er geflüchtet. Damit war allerdings auch die im Heim begonnene Maurerlehre zu Ende.
Und das Leben nach dem Heim? Beide Männer haben über ihre Erlebnisse im Heim jahrzehntelang geschwiegen. Alfred hat die Erinnerungen „verdrängt“, wie er sagt. Sie sind erst vor zwei Jahren, als die ersten Berichte durch die Medien gegangen sind, wieder aufgetaucht. Da hat er dann zu einem Freund darüber gesprochen. Für Richard war das Interview das erste Mal.
Richard wurde Hilfsarbeiter, wechselte oft den Arbeitsplatz und war in Raufereien und Diebstähle verwickelt. Er wurde angezeigt und verurteilt – Kleinkriminalität heißt das. Alfred ist es gelungen, ein recht stabiles Leben aufzubauen – eine langjährige Partnerschaft, zwei Kinder, stabile Arbeitsverhältnisse in Anlernberufen. Richard fand erst mit fast 40 Jahren Boden unter den Füßen – eine Ehe wurde zum Sprungbrett in ein stabileres Leben.
Depressionen, Angstträume, Panikattacken finden sich in den Berichten der ehemaligen Heimkinder. Rückblickend sind bei vielen die Erlebnisse körperlicher Gewalt im Vordergrund gestanden. Aber auch die sexuelle Gewalt ist noch tief in der Erinnerung eingebrannt. Weder Alfred noch Richard haben ein Rachebedürfnis oder den Glauben, dass eine Anzeige heute noch Sinn macht. Alfred wünscht sich die Möglichkeit einer Psychotherapie. Eine finanzielle Entschädigung wäre für die beiden und für viele andere das Zeichen einer öffentlichen Anerkennung, dass ihnen Unrecht geschehen ist.
Die beiden Beispiele sind eine Auswahl aus 130 Interviews, die ich im Auftrag der Opferschutzorganisation Weisser Ring zwischen 2011 und 2012 mit ehemaligen Heimkindern (51 Frauen, 79 Männer, Durchschnittsalter 53 Jahre) aus Heimen der Jugendfürsorge geführt habe. Zwei meiner Interviewpartner hatten (Heimeinweisung 1944) noch den „Spiegelgrund“ kennengelernt.
Mehr als 98 Prozent berichteten über Erlebnisse psychischer Gewalt, fast ebenso viele (96 Prozent) über körperliche und knapp 47 Prozent über sexuelle Gewalt. Aus den Jahren 1946– 75 wird die Häufigkeit körperlicher Gewalt signifikant öfter berichtet als aus späteren Jahren (1976–90). Probleme im späteren Leben finden sich signifikant häufiger nach sexuellen Gewalterfahrungen: instabile Berufslaufbahnen und Partnerschaften, psychische Probleme, gravierende Turbulenzen im Lebenslauf. Neigung zu kriminellen Handlungen findet sich häufiger nach körperlicher Gewalt.
Gewaltorientierte Pädagogik
Eine Nacht lag ich gefesselt
im Internat in Bad Aussee
Kameraden schütteten mir in den Mund noch DDT …
So beschreibt André Heller in seinem „Angstlied“ seine Erinnerungen. Das war kein Fürsorgeheim, sondern ein privates Internat. In den 1950er- und 1960er-Jahren waren andere implizite und explizite pädagogische Normvorstellungen gültig – gesamtgesellschaftlich und in der Sozialpädagogik. Pädagogische Gewalt war weithin akzeptiert und gehörte auch außerhalb von Heimen zur Alltagserfahrung von Kindern und Jugendlichen. Eine IFES-Befragung 1984 kann als Blitzlicht auf die Pädagogik der 1950er- bis 60er-Jahre gewertet werden: 70 Prozent von 2000 befragten Eltern haben angegeben, als Kind geschlagen worden zu sein.
Diese gewaltorientierte Pädagogik hat in den Heimen ihre extremste Ausprägung gefunden. Das waren zweifellos auch Nachwirkungen der NS-Pädagogik. Die Vorstellungen von Selektion bis hin zur sozialen Eugenik waren dort weiterhin wirksam und es gab eine gewisse Kontinuität der Institutionen und der Personen. Ab dem Ende der 1960er-Jahre wurden diese Umstände in Deutschland früher, in Österreich etwas später unter dem Begriff „Heimmisere“ zum Thema des öffentlichen Diskurses. Die „Erzieher“ in den öffentlichen Heimen oder in privaten Internaten hatten meist keine fachliche Ausbildung. Richtschnur (welch doppeldeutiges Wort!) ihres Handelns war ihr (mehr oder weniger) „gesunder“ Menschenverstand, der in den 1930er- und 1940er-Jahren geformt worden war. In einer Zeit, in der pädagogisches Denken lautete: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Die Nationalsozialisten haben dieses Konzept perfektioniert, aber nicht erfunden. Schon vorher – spätestens seit den 1920er- Jahren – hat die Jugendfürsorge (und die Pädagogik) zwischen Tüchtigen und Versagern unterschieden. Die Nazis haben das dann auch in die Jugendfürsorge übertragen und tödliche Endstationen geschaffen.
Der Text des Liedes von André Heller geht weiter:
… Alles, weil ich’s nicht ertrug, dass man Pauli Grünwald schlug
nie vergess’ ich das Gegröle
„schafft den Judenstinker fort“ …
Auch Hellers Text zeigt (wie der zitierte „Befund“), dass rassistische Diskriminierung als spezifische Wurzel von Gewalt noch Jahrzehnte nach dem Ende der NS-Zeit wirksam war.
In Österreich gab es noch eine andere Quelle: einen erzkonservativen Katholizismus, der in manchen Teilen unseres Landes dominante Kraft war. Etwa in Tirol, wo die pädagogischen Praktiken der Ärztin Maria Nowak- Vogl schon 1980 durch einen TVBericht von Kurt Langbein bekannt wurden und nun durch die Med-Uni Innsbruck offiziell angeprangert worden sind. Zentrales Anliegen von Nowak- Vogl – Trägerin des päpstlichen Silvesterordens – war es, die Sexualität von Kindern zu reglementieren. Psychische und physische Gewalt waren legitime Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Dass der Deckmantel katholischer Sexualmoral gleichzeitig sexuellen Missbrauch in großem Maße ermöglichte, wissen wir heute aus den Berichten der Zöglinge konfessioneller Heime.
Nicht alle Fürsorgeheime, nicht alle katholischen Heime und nicht alle Internate waren Brutstätten und nicht alle Kinder waren Opfer von Gewalt. Aber diese Gewalt war allgegenwärtig.
Und heute? Einzelfälle wird es wohl auch heute noch geben. Sadismus, Machtbedürfnisse, die sich in Gewalt gegen Schwächere entladen, können Merkmale individueller Psychopathologie sein. Die Strukturen, die solche Persönlichkeitsmerkmale zu Systemcharakteristika werden lassen – Erving Goffman hat sie als „totale Institutionen“ bezeichnet – gibt es im pädagogischen Bereich (nahezu) nicht mehr. Pädagogen haben eine qualifizierte Ausbildung, Kontrolle und Supervision sind wichtige Instrumente der Prävention. Die Kinderund Jugendanwaltschaften und die verfassungsrechtliche Verankerung der Kinderrechte haben das öffentliche Bewusstsein verändert. Und seit 2012 gibt es in sozialpädagogischen Einrichtungen (heute sind das meist kleine Wohngemeinschaften) auch ein externes Monitoring durch die Menschenrechtskommissionen der Volksanwaltschaft.
* Die Namen wurden geändert und einige biografische Details im Sinne der Anonymisierung leicht modifiziert.