Der Ernst des Spiels

Gary Kasparow gilt als einer der stärksten Spieler der Schachgeschichte. Er hielt den WM-Titel fünfzehn Jahre lang, und auch nach seinem Rückzug als aktiver Spieler blieb er der Schachwelt erhalten.
VON ANATOL VITOUCH

„Wie bringt man einen Computer zum Blinzeln?“

Am Ende hatte er keine Chance. Mit 110 zu 61 Delegiertenstimmen verlor Gary Kasparow am 11. August die im Zuge der Schacholympiade in Tromsø abgehaltene Wahl zum Präsidenten des Weltschachbundes gegen Amtsinhaber Kirsan Iljumschinow. Und wer Kasparow kennt, der weiß: Er verliert nicht gern.

Das war schon 1997 so, als er in New York die „Ehre der Menschheit“ verteidigen wollte, sich aber IBMs Supercomputer „Deep Blue“ nach sechs Partien knapp mit 3,5 zu 2,5 geschlagen geben musste. Vor dem Match waren in der ganzen Stadt Plakate mit dem Gesicht des Weltmeisters zu sehen, der den Betrachter über ein Schachbrett hinweg anstarrt: „Wie bringt man einen Computer zum Blinzeln?“

Nach seiner Niederlage sprach Kasparow in Anlehnung an Diego Maradona von der „Hand Gottes“, die „Deep Blue“ offenbar geholfen habe, die richtigen Züge zu finden. Und kündigte an, seinen elektronischen Kontrahenten beim nächsten Match „in Stücke zu reißen“. Ein Ansinnen, dem IBM zuvorkam, indem es seine Kiste augenblicklich pensionierte und dem wütenden Kasparow damit jedes Revancherecht verwehrte.

Aufmüpfiger Einzelkämpfer
Nicht nur IBM, auch seinem schachpolitischen Kontrahenten Iljumschinow warf Kasparow wiederholt vor, er spiele mit gezinkten Karten. Mit dieser Meinung steht Kasparow aber nicht alleine da: Der Ex-Präsident der autonomen russischen Republik Kalmückien wurde und wird immer wieder mit Machtmissbrauch, Korruption und Missmanagement in Verbindung gebracht. Außerdem gab er wiederholt zu Protokoll, von Außerirdischen entführt worden zu sein, denen die Menschheit auch das Schachspiel verdanke.

Um den wirren Weltschach-Präsidenten von Putins Gnaden zu stürzen, versöhnte sich Kasparow 2010 sogar mit seinem ewigen Rivalen Anatoli Karpow. Gegen diesen hatte er am 9. November 1985 erstmals triumphiert und war, erst 22-jährig, Schachweltmeister geworden. In den Folgejahren lieferte sich Kasparow mit Karpow drei weitere zähe Duelle um den Titel, den er dreimal erfolgreich verteidigte. Die beiden Russen spielten in ihrem Leben nicht weniger als 178(!) Turnierschachpartien gegeneinander. Und sie waren einander abseits des Brettes nie grün. Allein schon deshalb, weil Karpow als linientreuer Kommunist und Systemkind, Kasparow hingegen als aufmüpfiger Einzelkämpfer galt.

Das Verhältnis des 12. zum 13. Weltmeister der Schachgeschichte änderte sich erst, als Kasparow wegen oppositioneller Aktivitäten vorübergehend in einem Moskauer Gefängnis saß: Karpow kam seinen Intimfeind überraschend besuchen. Ob er eine Feile oder aber ein Schachbrett dabeihatte, ist nicht überliefert. In jedem Fall unterstützte Kasparow in der Folge Karpows Kandidatur zur FIDE-Präsidentschaft. Der aber blieb anno 2010 ebenso chancenlos wie Kasparow vergangenen August. Selbst geschätzte 5600 gemeinsam auf die Waage gebrachte ELO-Punkte nutzten den beiden Ex- Weltmeistern in dieser Politischen Partie (so der Titel von Kasparows 1987 veröffentlichter Autobiografie) rein gar nichts. Der österreichische Schachbund zählte übrigens bei beiden Wahlen – als einer der wenigen westlichen Verbände – zu den verlässlichen Parteigängern des kalmückischen Alien- Opfers.

Also lieber ein rascher Blick zurück: Garik Kimowitsch Weinstein, der 1963 in Baku geborene Sohn einer Armenierin und eines russischen Juden, wurde als 10-Jähriger in Ex-Weltmeister Botwinniks Schachschule aufgenommen. Nach dem frühen Tod seines Vaters hatte der Knabe die russifizierte Version von Gasparjan, dem armenischen Mädchennamen seiner Mutter, als Namen angenommen. Rasch setzte Kasparow sich in nationalen Jugendturnieren gegen seine Altersgenossen durch und wurde 1980 in Dortmund Jugendweltmeister. Zwei Jahre später war er nach Ratingzahl bereits die Nummer zwei der Welt – hinter Karpow.

„Das Monster mit den tausend Augen“
Nach seiner Krönung zum Weltmeister 1985 entfaltete Kasparow eine einzigartige Dominanz: Nicht nur hielt er den WM-Titel fünfzehn Jahre lang, bis zu seiner überraschenden Niederlage gegen Landsmann Wladimir Kramnik im Jahr 2000. Er wurde auch zwischen 1986 und 2005 mit einer Unterbrechung von nur 3 Monaten immer als Nummer eins der Weltrangliste geführt.

Gefürchtet war vor allem seine Eröffnungsvorbereitung. Als erster Spitzenspieler erkannte Kasparow in den frühen 90er-Jahren die Bedeutung von Computern und Datenbanken für die Entwicklung des Spiels. Mit Hilfe von Engines wie dem deutschen Erzeugnis „Fritz“, die Jahr für Jahr stärker wurden, analysierte „das Monster mit den tausend Augen“ (so nannte ihn ein Großmeister-Kollege) die Eröffnungsphase des Schachs weit tiefer und genauer als all seine Kontrahenten. Auch durch sein emotionales Verhalten am Brett wurde Kasparow zum polarisierenden Publikumsmagneten. Legendär etwa, wie er minutenlang sein Gesicht in den Händen vergrub, nachdem er in der entscheidenden Partie gegen „Deep Blue“ einen elementaren Eröffnungsschnitzer begangen hatte – um danach fluchtartig und wild gestikulierend den Spielsaal zu verlassen. Oder sein Betragen im WM-Kampf 1994, im obersten Stockwerk des New Yorker „World Trade Center“: Als Kasparow gegen Herausforderer Viswanathan Anand vorübergehend zurücklag, knallte er während der nächsten Partie die Tür zu seinem Ruheraum mehrmals so heftig zu, dass die Figuren auf dem Brett wackelten. Der höfliche Inder Anand war davon so entnervt, dass er den Wettkampf schließlich noch hoch verlor.

Auch nach seinem Rückzug als aktiver Spieler blieb Gary der Schachwelt erhalten. Nicht nur als FIDE-Kritiker und fleißiger Besucher wichtiger Turniere, sondern auch als Trainer von Magnus Carlsen. Dem norwegischen Wunderkind wollte Kasparow nach eigener Aussage beibringen, härter an seinem Schach zu arbeiten und nicht so schlampige Eröffnungen zu spielen. Carlsen, mittlerweile selbst Weltmeister, beendete die Zusammenarbeit jedoch nach kurzer Zeit. Kasparow, so ließ der norwegische Langschläfer durchblicken, nehme ihm das Spiel irgendwie einfach zu ernst.

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