Es ist weniger der Antisemitismus als neue nationalistischen Tendenzen, die das jüdische Leben bedrohen.
Das Ziel jedes Terroristen – egal wie rational oder verrückt seine Motive – ist es, bei einer bestimmten Zielgruppe Angst und Schrecken zu verbreiten. Dies ist dem Synagogen-Attentäter von Halle tatsächlich gelungen. Auch wenn es ihm nicht gelang, zu Jom Kippur in die Synagoge einzudringen und die beiden zufälligen Todesopfer keine Juden waren, hat der Angriff am höchsten Feiertag jüdische Gemeinden in Deutschland und ganz Europa tief erschüttert.
Das ist nachvollziehbar. Doch auch nach diesem Anschlag hat sich die tatsächliche Bedrohungslage für Juden in Deutschland und den meisten anderen europäischen Staaten nicht verändert. Auch wenn die massive Berichterstattung und die ständigen Warnungen von jüdischen Gemeindevertretern, Antisemitismusforschern und freundlich gesinnten Politikern ein anderes Bild zeichnen: Das Risiko für Juden, Zielscheibe für antisemitische Angriffe zu werden, ist in den vergangenen Jahren nicht gewachsen und grundsätzlich gering. Die Bereitschaft zur Gewalt beschränkt sich auf marginale Gruppen im rechtsextremen und radikal-islamischen Milieu. Der angebliche Anstieg antijüdischer Vorfälle, der in zahlreichen Berichten und Studien ausgewiesen wird, täuscht: Gezählt werden vor allem Hasspostings in sozialen Medien, die es früher nicht gab, weil das Internet nicht existierte oder nicht so viel genutzt wurde. Die Hetze am Stammtisch lässt sich nicht dokumentieren, der Facebook-Eintrag sehr wohl.
Essenz der Diaspora
Natürlich existiert Antisemitismus, und immer noch viel zu viel, aber alle Umfragen zeigen auch, dass antijüdische Einstellungen in der breiten Bevölkerung eher ab- als zunehmen. Befragungen lassen sich über Zeiträume selten gut vergleichen, doch ein Ergebnis sticht hervor: Ältere stehen Juden deutlich feindlicher gegenüber als Jüngere. Wenn man nicht davon ausgeht, dass Menschen im Laufe des Lebens antisemitischer werden, wofür es keinerlei Beleg gibt, liegt der Schluss auf der Hand, dass eine Generation mit mehr Vorurteilen langsam ausstirbt und eine mit mehr Offenheit und Toleranz nachwächst. Es gab in der Geschichte Europas noch nie so wenig Antisemitismus wie heute; er ist bloß sichtbarer, er wird mehr diskutiert und viel konsequenter verurteilt als früher. Das heißt nicht, dass man nicht mit aller Kraft dagegen ankämpfen muss – und das gilt vor allem für die nichtjüdische Zivilgesellschaft und Politik. Aber Angst ist fehl am Platz.
Es gibt andere Entwicklungen, über die sich europäische Juden mehr Sorgen machen sollten als über den offenen Rechtsextremismus, und das ist der viel weiter verbreitete Rechtspopulismus mit seinen nationalistischen Tönen. Dieser bedroht die Grundlagen der heute so sicheren jüdischen Existenz in Europa. Juden in der Diaspora waren immer die Opfer nationalistischer Strömungen, denn diese verlangen eine eindeutige Loyalität und tolerieren keine gemischte Identität.
Genau das aber ist die Essenz der jüdischen Diaspora. Egal, ob man tief religiös oder völlig säkular lebt: Die jüdische Identität setzt sich aus unterschiedlichen Elementen zusammen und ist nicht an nationale Grenzen gebunden. Juden sind loyale Bürger ihrer Staaten und manchmal auch echte Patrioten, aber sie können außerhalb von Israel niemals Teil einer Gruppe sein, die sich ethno-national identifiziert. Auch in Israel ist dies eine problematische Entwicklung.
Entscheidungsfreiheit
Versuche von Juden, etwa als „echte“ Franzosen oder Deutsche zu gelten, waren immer zum Scheitern verurteilt. Juden waren daher in politischen Strukturen, die auf einen Ethnonationalismus verzichteten, stets am besten aufgehoben: beispielsweise im Habsburgerreich oder in den USA. Und das gilt heute auch für die Europäische Union. Mit ihrem rationalen, aufgeklärten und nicht-nationalen Selbstverständnis ist die EU eine beinahe perfekte Verwirklichung eines jüdischen Traums. Die Union verwandelt Europa in einen Ort, den Juden trotz der furchtbaren Geschichte und heutigen Anfeindungen als ihre Heimat betrachten können – und dies zunehmend auch tun. Abgesehen von einem kurzen Anstieg aus Frankreich nach den Terrorattacken von 2015 wandern nur sehr wenige Juden aus EU-Staaten nach Israel aus.
Sollte jedoch dieses Europa in nationalistisch denkende und nur nach nationalen Interessen handelnde Staaten zerfallen, wie es die FPÖ, Marine Le Pen in Frankreich oder die AfD fordern, dann wäre das für Europas Juden katastrophal. Die uneingeschränkte Loyalität, die von „heimattreuen“ Österreichern oder Franzosen verlangt wird, können und wollen Juden nicht erbringen; und das könnte sie wieder zu Feindbildern und Sündenböcken werden lassen. Juden, die in Europa, den USA oder anderswo in der Diaspora leben, wollen sich nicht für das eine Land oder die eine Gruppe gegen andere entscheiden. Sie brauchen die Freiheit, sich nicht zu entscheiden. Und diese Freiheit ist ein Grundprinzip der Europäischen Union.
Brexit
Der noch zu Jahresanfang vorausgesagte Siegeszug rechtspopulistischer Parteien hat sich nicht verwirklicht. Aber die Gefahr ist nirgendwo gebannt. Auch wenn Großbritannien nach dem erwarteten Brexit ein grundsätzlich tolerantes Land bleiben sollte, ist selbst dort die Abkehr von der EU für die meisten britischen Juden besonders schmerzhaft. Und in Ungarn macht Viktor Orbáns Nationalismus mit seinen christlichen Begleittönen ungarische Juden zunehmend zu Fremden im eigenen Land.
In fast allen europäischen Staaten gibt es nationalistische Tendenzen, die für Juden auch ohne antisemitische Töne bedrohlich sind. Egal ob man politisch links, rechts oder in der Mitte steht: Aus jüdischer Sicht ist eine pro-europäische Haltung unverzichtbar und ein pro-europäisches Engagement ein Beitrag für das eigene Wohlergehen. Es ist das Projekt Europa, das uns besser schützt als jede Sicherheitstür.