Der FALTER Verlag stellt in seiner neuen Reihe „CITYwalks“ Mahnmale, Gedenkstätten und Orte der Erinnerung der Ersten und Zweiten Republik vor. Autor Erich Klein zeigt in spannender Weise die Widersprüchlichkeit der Geschichtsbetrachtung in einer Stadt, die mit Juden und durch Juden groß geworden ist.
Von Peter Menasse
Der FALTER Buchverlag bewirbt seine Sachbuchreihen mit den Begriffen „nützlich und schön“. Dem kann durchaus zugestimmt werden. Was aber unbedingt zu ergänzen ist: Der FALTER Verlag macht uns vor allem gehen. FALTER als Fitnessprogramm der besonderen Art. Wir eilen mit dem Verlags-Dauerbrenner „Wien, wie es isst …“ von Restaurant über Kaffeehaus zu Wirtshaus. Wir durchschreiten ganz Wien auf der Jagd nach „Beisln und Alt-Wiener Gaststätten“ oder lassen uns von „Baby in Wien“ oder „Kind in Wien“ zum Gehen inspirieren. Wir besichtigen die Stadt aus ungewohnter Perspektive mit dem Band „Unterirdisches Wien“ oder wir wandern, mit hübschen Reiseführern ausgestattet, falternd durch das Kamptal, das Weinviertel oder andere Gegenden Österreichs in der Nähe der Bundeshauptstadt.
Das Gehen und Sehen zum Prinzip macht endgültig die neue, inzwischen bereits fünfbändige Reihe des Verlags „Falters CITYwalks“. Kunst, Kultur, Zeitgeschichte und Stadtleben erschließen sich dem gehenden Leser, dem lesenden Geher zu Themen wie Wiener Jugendstil, Wiener Galerien, Wiener Szenelokale und Rotes Wien. Unsere besondere Aufmerksamkeit aber gilt dem neuesten „Gehbehelf“, dem Buch „Denkwürdiges Wien“. Geschrieben hat es Erich Klein, ein Wiener, der ein Stück seines Herzens an Russland verloren hat. Für sein Buch „Die Russen in Wien. Die Befreiung Österreichs“, das, obwohl sich darin nichts zu Ergehendes findet, ebenfalls im FALTER Verlag erschienen ist, hat er sensationelle Bilder aus dem Jahr 1945 ausgegraben und sie mit klugen Texten versehen. Als Journalist und Übersetzer hat er eine Reihe von russischen Literaten nach Wien gebracht und mit seinen Transkriptionen russische literarische Texte dem deutschsprachigen Leser erschlossen.
Das Buch „Denkwürdiges Wien“ will den Blick des Wien-Besuchers auf Orte des Gedenkens richten und über Opfer, aber auch Täter der nationalsozialistischen Herrschaft von 1938 bis 1945 erzählen. Klein weist in seiner Einleitung darauf hin, dass in Wien wegen des auf „den Tourismus ausgerichteten Bilds glanzvoller imperialer Vergangenheit und Größe für die Erinnerung an den zeitlich viel näher liegenden Zivilisationsbruch durch die Nazis kein Platz ist“. Und so nimmt der Autor uns auf drei Spaziergänge mit, die auch profunden Kennern der Geschichte des Nationalsozialismus und eingefleischten Wienern Neues bieten können, wenn sie nur – falterkonform – bereit sind, weit und viel zu gehen.
Der erste Spaziergang nennt sich „Über Ring und Vorstadt ins Zentrum …“ und führt von der Alten Börse am Schottenring zum Stephansplatz. Der Weg beginnt bei Stefan Zweig, der Wien in seinen Erinnerungen so sehr verklärte und schließlich an der Geschichte verzweifelnd Selbstmord beging. Wir kommen vorbei bei Sigmund Freud, Friedrich Torberg, sehen den Platz, wo einst die Synagoge des Betvereins Chewra Beth Hatfila, stand und halten schließlich beim Jüdischen Friedhof in der Seegasse. Bei der Strudlhofstiege erinnert uns Klein an das kurzfristige Engagement des großen Heimito von Doderer bei den Nazis, um uns weiter zum Alsergrunder Bezirksmuseum zu führen, das sich in besonderem Maße der Erinnerung an Erich Fried angenommen hat.
Es sind nicht nur die großen Helden des Geisteslebens, an denen uns das Buch vorbeiführt. Die Pater-Maximilian-Kolbe-Kapelle in der Alser Straße wird uns als Gedenkort für den berühmten Franziskanerpater präsentiert, aber wir lernen dort auch, dass der Geistliche, der sich für einen anderen polnischen Häftling im KZ aufopferte, vor dem Krieg ein „rabiater Antisemit“ gewesen war. Das ist nur ein Beispiel unter vielen anderen in diesem Band, bei dem Erinnerung kritisch hinterfragt wird und das Widersprüchliche ohne vorauseilende Verklärung oder Zensur vorkommen darf.
Es würde den Rahmen sprengen, den Spaziergang in aller Breite darzustellen, daher seien hier nur mehr einige Stationen erwähnt: Votivkirche mit der Würdigung von Franz Jägerstätter, die Universität Wien mit einer Darstellung der Geschichte des Siegfriedskopfs, der Rathausplatz mit der Statue des Ritters Freiherr von Sonnenfels, des jüdischen Beraters der Kaiserin Maria Theresia, das Parlament und das Palais Epstein, das Leon Zelman als „Haus der Toleranz“ gewidmet sehen wollte und das stattdessen jetzt Büros von Nationalratsabgeordneten beherbergen wird, Hofburg, Denkmäler an der Ringstraße, Heldenplatz.
Schließlich landen wir beim Stephansdom, der stellvertretend für die Geschichte Wiens die ganze Widersprüchlichkeit in sich trägt: Da findet sich in der Barbarakapelle ein spätgotisches Kreuz, in das eine Kapsel mit Asche aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zum Gedenken an die Opfer eingesetzt wurde. Das „andere“ Wien zeigt sich, wenn man den Dom verlässt, oberhalb des Haupttors. Die bösen Mächte der Außenwelt sind dort in Gestalt von Kröten und Ungetier repräsentiert. Zwischen den „unreinen Kräften“ findet sich auf der linken Seite auch die Darstellung eines Juden, erkennbar am spitzen Hut. Wir grüßen den Dom verlassend das Zeichen des Widerstands „05″ an der Außenmauer und besuchen noch, den Anweisungen des Autors folgend, ein Kaffeehaus in der Nähe.
Für den nächsten Tag dürfen wir einen FALTER Muskelkater vom Feinsten erwarten. Haben wir uns von den Strapazen erholt, folgen wir Erich Klein auf seinem zweiten Spaziergang „durch das jüdische Wien“. Beginnend in der Herrengasse, über den Platz Am Hof führt uns der Autor zum Judenplatz, der so viel jüdische Geschichte – neue wie alte – enthält, die sich dem Leser dank der Kleinschen Aufbereitung in ihrer ganzen Breite erschließt. Hier blickt der große Aufklärer und Bibliothekar Gotthold Ephraim Lessing auf Rachel Whitereads Holocaustmahnmal, eine nicht begehbare Bibliothek. Hier befand sich das Zentrum der Wiener Juden vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, bevor sie in der „Wiener Geserah“ (1420/21) hingerichtet wurden oder Selbstmord begingen, um der Zwangstaufe zu entgehen.
Mit Klein erinnern wir uns wieder an die Diskussionen um das Relief am Jordanhaus, auf dem die Tötung der Juden als „die Reinigung von Schmutz und Übel“ bejubelt wird und dem nach langen Diskussionen von der katholischen Kirche eine Gedenktafel mit dem Eingeständnis des christlichen Versagens angesichts der Ermordung der europäischen Juden entgegengesetzt wurde.
Auch dieser zweite Spaziergang erfordert hohe Leistungsfähigkeit beim gehenden Überwinden von weiten Strecken. Der Autor führt uns weiter zum Alten Rathaus mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und zum Stadttempel. Und weil in Wien der hässliche Gegensatz an jeder Ecke lauert, folgt gleich darauf der Morzinplatz, wo das Hotel Metropol der Gestapo als Hauptquartier diente. Hermann Broch begegnet uns, Martin Buber, Fritz Kreisler, Otto Bauer, Johann Koplenig und Jura Soyfer. Die jüdischen Schulen Wiens, der Leopoldstädter Tempel, aber auch die Flaktürme im Augarten – der zweite Bezirk ist voll versunkener Geschichte, ist voll von auflebendem neuem jüdischem Leben, auch wenn das vernichtete nie wieder wird entstehen können.
Der dritte Spaziergang sagt schon durch seinen Namen, dass er sich kaum nur gehend erschließen lässt. Für den Weg „vom Zentrum an die Peripherie“ wird man sich wohl mitunter der Wiener Linien bedienen müssen.
Vom Jüdischen Museum über die Kapuzinergruft, Hrdlickas Mahnmal gegen Krieg und Faschismus und eine Reihe weiterer Gedenkorte bis zum „Russendenkmal“ auf dem Schwarzenbergplatz sollte die Kondition noch reichen. Mit dem Befreiungsdenkmal befasst sich Erich Klein, ausgewiesener Experte für alles Russische, besonders detailliert. Man lernt, dass bereits im Januar 1945 ein Architektenwettbewerb vom Kriegsrat der Vierten Gardearmee durchgeführt wurde, den der junge Bildhauer Intisarjan gewann. Der Künstler bastelte sein Modell des Denkmals noch im Schützengraben aus Brot und Speck. Ausführlich wird vom Autor auch die realsozialistische Kampfrhetorik besprochen, die sich überall am Denkmal entdecken lässt und die seltsam antiquiert anmutet. Etwas verwundert registriert Klein, dass bis heute am Denkmal Kränze niedergelegt werden. Mancher jüdische Wiener, der Autor dieses Beitrags jedenfalls, kann das gut verstehen. Ohne die alliierten Truppen, genauer gesagt ohne die Rote Armee, wäre der Nationalsozialismus aus Wien nicht verschwunden. Wer also begrüßt, dass Juden wieder in diese Stadt zurückkehren konnten, darf sich der Realität nicht verschließen, dass sich Österreich nicht von innen vom Faschismus befreit hat, sondern die Befreiung von außen kam.
Eine weitere Station des dritten Rundgangs ist der Aspangbahnhof, von dem aus zwischen 1939 und 1942 etwa 50.000 Juden in die Vernichtungslager im Osten Europas deportiert wurden. Weiter geht es zum Zentralfriedhof mit dem alten jüdischen und dem neuen israelitischen Friedhof und schließlich – hier ist die Benutzung eines Verkehrsmittels dringend anzuraten – in die Gegend der Heurigen, wo uns ganz zum Schluss nochmals Sigmund Freud begegnet. Dann führt uns der endlich gnädig gestimmte Autor zum Heurigen Sirbu und bemerkt dazu: „Das Lokal liegt direkt am Weg.“ Dort, am Weg, liegt wohl erschöpft auch der Leser, der Erich Klein gefolgt ist, immerhin aber voll informiert über das Wien der Gedenkstätten, der jüdischen Kultur, der wenigen Kämpfer gegen Unrecht, der Ewiggestrigen – informiert also über unser aller Wien.
Erich Klein „Denkwürdiges Wien“
FALTER Verlag,Wien 2004
ISBN 3-85439-303-2, www.falter.at