Zwanzig Millionen Kronen stiftete die Familie Rothschild 1907 in Wien für wohltätige Zwecke. Gegenwärtig wären das zwischen 120 und 140 Millionen Euro. Geoffrey R. Hoguet, Nachfahre jenes Stifters, der einst Wiener Nervenkliniken finanzierte, wirft der Stadt Wien stiftungswidriges Handeln vor.
„Wir brauchen keine Nachhilfe in Geschichte“, meinte der Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker jüngst im profil als Antwort auf kritische Bemerkungen von Nationalratspräsident Sobotka und auf eine Klage der amerikanischen Rothschild-Nachfahren: „Die Stadt Wien hat immer gezeigt, wie verantwortlich sie mit der NS-Geschichte umgeht.“ Es geht in dem Disput um die gemeinnützige „Freiherr Nathaniel von Rothschild’sche Stiftung für Nervenkranke“, die von den Nationalsozialisten enteignet, deren Vermögen der Stadt Wien übergeben wurde und die nie mehr im Sinne des Stifters wiedererrichtet worden ist.
Der 1905 verstorbene Baron Nathaniel Rothschild ist durch seine wohltätigen Stiftungen berühmt geworden. Weder vorher noch nachher in der österreichischen Geschichte hat ein Einzelner derart hohe Summen für die Allgemeinheit gespendet. Es sind unzählige kleinere und größere Posten: Die Lungenheilstätte in Alland, das Schloss und die Militärstiftung in Reichenau mit mehreren Millionen Kronen, die Wiener Poliklinik mit einer Million, die Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaft mit einer Million. Weitere zwei Millionen Kronen für insgesamt 177 wohltätige Vereine und Anstalten ohne Unterscheidung der Konfession finden sich im Testament. Am wichtigsten aber ist seine Stiftung für Nervenkranke am Wiener Rosenhügel. Sie ist mit 20 Millionen Kronen die größte Einzelspende, die in Österreich jemals gemacht worden ist. Wie hoch diese Summe war, wird deutlich, wenn man sie mit der ziemlich genau zum gleichen Zeitpunkt errichteten niederösterreichischen Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Öhling vergleicht, die zwischen 1898 und 1902 auf etwa 100 Hektar mit mehr als 40 Objekten, Pavillons, Direktionsgebäude, Kirche, Aufbahrungshalle, Gesellschaftsraum, Pflegerhäusern etc., angelegt wurde und insgesamt vier Millionen Kronen kostete.
Vermögen für Wien
Nach dem Tod Nathaniels im Jahr 1905 wurde dem Testament entsprechend die Stiftung im Jahr 1907 eingesetzt, man errichtete in der Folge die Nervenheilanstalten am Rosenhügel im 13. Wiener Gemeindebezirk und im Maria-Theresien-Schlössel im 19. Bezirk. Am 19. Dezember 1938 wurde die Stiftung von den Nationalsozialisten aufgelöst und ihr Vermögen der Gemeinde Wien übergeben. Im Jahr 1942 verkaufte die Gemeinde davon eine Fläche von 67.000 m² an die Wien Film Ges.m.b.H (Studio Rosenhügel). Der Kaufpreis betrug 373.000 Reichsmark, zusätzlich erhielt die Stadt Wien 500.000 Reichsmark für die „Beeinträchtigung der städtischen Nervenheilanstalt Rosenhügel und die (…) gärtnerische Umgestaltung“.
Als die Stiftung 1956 mit Urteil der Rückstellungskommission in ihrer Rechtspersönlichkeit wiederhergestellt werden musste, mündete das in ein kurioses Scheingefecht innerhalb der städtischen Bürokratie. Rückstellungswerber war in Vertretung der Rothschild’schen Stiftung die MA 12, Rückstellungsgegner, quasi also Ariseur, in Vertretung der Stadt die MA 65. Man machte aufwendige gegenseitige Aufrechnungen, wie man sie aus vielen, oft ausgesprochen befremdlichen Rückstellungsverfahren kennt. Am 20. Juni 1962 informierte man schließlich den damaligen Vizebürgermeister Felix Slawik über den Abschluss eines Vergleichs zwischen den beiden Magistratsabteilungen: Sie verzichteten gegenseitig auf ausstehende Forderungen. 500.000 Schilling, also etwa 65.000 Euro, erhielt die Rothschild-Stiftung von der Stadt für das an die Wienfilm verkaufte Areal, sprich: die MA 12 von der MA 65. Die Stadt wurde im Gegenzug mit der Verwaltung der Stiftung betraut und in die Rechtsnachfolge der Stiftung eingesetzt. Statt des früheren unabhängigen, zwölfköpfigen Beirats saßen nun zwei Beamte in der Stiftung, die in weiterer Folge mehrere Grundstücke verkaufte, zuletzt 1977 etwa 2500 m² im 13. Bezirk um etwa 500.000 Euro sowie 2002 das Maria-Theresien-Schlössel an die Stadt um den auffallend niedrigen Preis von 6,6 Mio. Euro.
„Ich gehe davon aus, dass die damals handelnden Damen und Herren die richtigen Entscheidungen getroffen haben“, rechtfertigte Hacker die Vorgangsweise 1956 und in den folgenden Jahren. Hat man damals in Wien wirklich so verantwortungsvoll gehandelt und war die Restitutions- und NS-Politik der Stadt Wien tatsächlich so vorbildlich, wie Hacker meint? Die Wiener Rothschilds sind nicht nur ausgestorben, sondern wurden ausgelöscht. Es gibt in Wien heute nicht mehr viel, was an sie erinnern könnte. Die beiden Palais im 4. Bezirk, das kaum beschädigte Palais Albert Rothschild in der Prinz-Eugen-Straße, das nach der Neuen Hofburg größte und bedeutendste Palais aus dem Wiener Historismus, und das etwas stärker von den Kriegshandlungen in Mitleidenschaft gezogene Palais Nathaniel Rothschild in der Theresianumgasse wurden gegen heftigsten Widerstand des Denkmalamts in den 1950er Jahren von der Wiener Arbeiterkammer abgerissen. Die Kammer rechtfertigt ihr Vorgehen in einer kleinen Dauerausstellung wahrheitswidrig mit der Baufälligkeit der Palais.
Neuer Kapitalismus
Wo einst der Inbegriff des Kapitals residierte, dann Eichmann und die SS, amtieren jetzt in gesichtslosen Nachkriegsbauten die Kammer für Arbeit und Wirtschaft und ihr Fortbildungsinstitut. Die berühmten Säle des Palais Rothschild, der goldene und der silberne, fanden in zerstückelter Form in einem Gewerkschaftshaus für eine Tanzschule Verwendung. Dem berühmten Rothschild-Spital am Währinger Gürtel erging es nicht anders. Es wurde Ende der 1950er Jahre an die Wirtschaftskammer verkauft, abgerissen und durch das Wirtschaftsförderungsinstitut (Wifi) ersetzt. Der Kapitalismus der Sozialpartner ist an die Stelle des Rothschild-Kapitalismus getreten.
Auch das 85.000 m² große Areal der berühmten Nathaniel-Rothschild-Gärten im 19. Bezirk ist in der NS-Zeit ins Eigentum der Stadt übergegangen und wurde überbaut und umbenannt. Der Rothschild’sche Nordbahnhof, das prächtigste Bahnhofsgebäude auf dem europäischen Festland, wurde am 21. Mai 1965 gesprengt. Das lebensgroße Standbild Salomon Rothschilds in der Bahnhofshalle, das bereits kurz nach dem Einmarsch demontiert worden war, überdauerte in einer Ecke der Eisenbahnabteilung des Technischen Museums und ist nun im Jüdischen Museum. „Auch die Judendenkmäler verschwinden“, triumphierte der Völkische Beobachter am 29. 11. 1938. Nichts mehr in Wien sollte an Rothschild erinnern. Auch der Name der altehrwürdigen Rothschild’schen Credit-Anstalt, der 150 Jahre hindurch größten Bank Österreichs, ist inzwischen getilgt und durch UniCredit ersetzt.
Erst seit 2016 gibt es in Wien einen Rothschildplatz, in der Bauwüste am ehemaligen Nordbahnhofgelände, wo jetzt der Hauptsitz der Bank Austria Unicredit, der Nachfolgerin der alten Credit-Anstalt, zu finden ist. Dass der NS-Euthanasiearzt Heinrich Gross, der 1950 vom Volksgericht Wien zu zwei Jahren schwerem Kerker verurteilt worden war, 1951 seine Karriere unbeschädigt just in der Nervenheilanstalt Rosenhügel im Dunstkreis von SPÖ und BSA fortsetzen konnte und 1957 zum Primarius am Steinhof und zum vielbeschäftigten Gutachter aufstieg, passt in dieses Muster des gar nicht so vorbildlichen Umgangs mit der NS-Geschichte.
Da schaue die Gier aus den Augen raus, meinte Hacker mit einem durchaus nicht unbekannten Unterton über die Kritiker des Wiener Umgangs mit dem Rothschild-Erbe. Lernen Sie Geschichte, Herr Hacker, möchte man ihm mit einem berühmten Kreisky-Wort antworten.
Roman Sandgruber
Rothschild. Glanz und Untergang des Wiener Welthauses
Molden-Styria, Wien, 2018
528 Seiten, EUR 37,–