Es ist unsere Verantwortung, zu versuchen zu verstehen, was Menschen anderen Menschen anzutun imstande sind, um es für die Zukunft möglichst zu verhindern. Stefan Ruzowitzkys Film Das radikal Böse ist ein ausgezeichneter Weg dazu.
Von Martin Engelberg (Text) und Milagros Martinez Flener (Fotos)
Es sind zwei Facetten, denen der Film des österreichischen Oscarpreisträgers Ruzowitzky nachgeht: Erstens die monströse Tatsache, dass zirka zwei Millionen jüdische Menschen – also ein Drittel aller Holocaustopfer – über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren, einzeln, mit Pistolen und Gewehren, erschossen wurden. Der Film zwingt einen, sich zu vergegenwärtigen, dass z. B. alle Bewohner einer Stadt wie Bregenz, oder des gesamten 7. Wiener Gemeindebezirks Neubau, also jeweils ca. 30.000 Menschen, in einem Zeitraum von lediglich 36 Stunden abgeführt und am Stadtrand erschossen werden; wirklich alle – Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge. So geschehen in Babi Jar bei Kiew am 29. und 30. September 1941.
Die zweite Facette ist vielleicht noch viel schwerer zu erfassen: Wie war es möglich, dass diese Morde – wie sich später herausstellte – zumeist von ganz normalen, psychisch gesunden Menschen, liebenden Familienvätern und unauffälligen Söhnen verübt wurden?
Stefan Ruzowitzky dazu im Interview mit NU: Obwohl ich Geschichte studiert habe, schrammt man irgendwie an diesem Thema vorbei. Also die Wehrmachtsausstellung habe ich natürlich mitbekommen, ich wusste dass die Wehrmacht auch nicht unbefleckt, sondern an schrecklichen Dingen beteiligt war. Dass die Wehrmacht und die SS, schreckliche Dinge getan haben, das kann man als bekannt voraussetzen. Aber dass es ein systematischer Genozid in dieser Dimension war, das war mir davor auch nicht so bewusst gewesen. Und natürlich waren dann die Soldaten, die daran beteiligt waren, interessanter als das KZ-Personal. Das KZ-Personal, das war eine stark ideologisierte kleine Gruppe von Menschen, die da beschäftigt waren, während bei den Einsatzgruppen es ganz viele, ganz normale Menschen gab. Da drängt sich die Frage auf, wie man so viele normale Menschen dazu bringt, so etwas Schreckliches zu tun.
Haben Sie eine Antwort gefunden?
Ich glaube, dass es zu spät ist oder falsch wäre, darauf zu hoffen, dass es in dieser Situation, wie wir es im Film beschreiben, genügend Leute gibt, die Zivilcourage haben werden und bei denen sich irgendwie ein moralisch-ethisches Empfinden durchsetzt. Man muss zu einem Zeitpunkt politisch arbeiten wo es funktionierende demokratische Institutionen, eine funktionierende freie Presse gibt.
Was bedeutet das für heute?
Also wenn man immer beklagt, dass es so wenig Zivilgesellschaft gibt hierzulande, die jetzt auch gegen gewisse Tendenzen, wie sie die FPÖ vertritt, auftritt, dann denke ich mir, ist man als Filmemacher auch aufgefordert, in irgendeiner Form mal Stellung zu beziehen, wohl wissend, dass man damit die Welt nicht aus den Angeln heben wird, aber einfach – das ist mein Gebiet und dann dachte ich, es bietet sich an, da Stellung zu beziehen oder von sich zu geben.
Stefan Ruzowitzky hat ein psychologisch- soziologisch-politologischer Zugang zu diesem Thema interessiert. Die Frage nach der Motivation, warum manche Menschen gewisse Dinge, Gutes oder Böses, tun. Ob sie in diesem Moment realisieren, dass sie Böses tun. Interessant findet er jene „Bösewichte“, die dabei glauben, Gutes zu tun. Ruzowitzky stellt sich diesen Aufgaben bravourös.
NU: Kann jeder von uns möglicherweise in die Situation kommen, Teil einer Mördermaschinerie zu werden? Die nächste Frage, die man sich dann stellt ist: Es waren hauptsächlich Deutsche und Österreicher, die das gemacht haben, ist das zufällig?
Ruzowitzky: Nein, das natürlich nicht. Das ist natürlich die Gefahr bei so einem Zugang, deswegen habe ich auch am Ende und Anfang stark darauf Bezug genommen. Es gibt Phänomene wie Gruppenzwang, Konformitätsdruck, aber deswegen wird nicht jeder zu einem Massenmörder und zu einem Beteiligten an einem Genozid. Genozid ist dann schon was, was aufgrund gewisser historischer Rahmenbedingungen entsteht und wo es einen politischen Willen gibt, der das ganz gezielt vorantreibt und das war eben beides damals in Deutschland und Österreich der Fall. Das menschliche Potenzial ist enorm in dieser Richtung, aber dass es zu so etwas kommt wie dem Holocaust, dazu bedarf es mehr. Das entsteht nicht einfach so von selbst aufgrund eines diffusen Volkswillens.
Die Frage, die da aber noch weiter geht ist: Hätte das auch woanders stattfinden können?
Der Sozialpsychologe Professor Baumeister sagt im Film: Ob Amerikaner so etwas auch machen würden, ja! Ob aber die Rahmenbedingungen im heutigen Amerika entstehen könnten, da wäre er optimistisch. Und ich würde mich ihm im Großen und Ganzen anschließen. So etwas kann sich natürlich relativ schnell wandeln. Ich kann mich erinnern, vor ein paar Jahren, wie ich dermaßen schockiert war, als es diese Diskussion gab: Folter unter gewissen Bedingungen und wenn das ganz Böse sind, ist eigentlich eh okay. Ich dachte: Das ist doch irgendwie Mittelalter, was wir eigentlich schon längst abgelegt haben. Also ich glaube solche Entwicklungen gehen relativ schnell.
Der andere Gedanke, der auch sehr viel diskutiert wurde, ist: Indem man versucht, die Soldaten zu verstehen, entschuldigt und entschuldet man sie damit nicht?
Das ist natürlich das größte Problem. Daher haben wir es auch im Film thematisiert. Die Experten, die sich mit Täterforschung beschäftigen meinten: Egal wie man es dreht und wendet, die Auseinandersetzung mit den historischen, soziologischen, psychologischen Rahmenbedingungen ist immer etwas anderes als eine moralische Bewertung. Für den Einzelnen war es das scheinbar bequemste, einfach mitzumachen und sich nicht den Luxus einer eigenen Meinung, einer eigenen moralischen Position zu leisten, das sind Rahmenbedingungen, aber man hat es nicht machen müssen und das ist da der ganz große Unterschied.
Die Sache mit Täterforschung ist natürlich überhaupt jetzt gerade im Fall mordender Einsatzgruppen eine zwiespältige, denn einerseits – das ist die Position von Père Desbois (Anm. d. Red.: franz. Pater und Genozidforscher), der sagt: Die Opfer der Einsatzgruppen, das ist noch einmal eine große Schande für die Menschheit, weil sie völlig vergessen sind. Wir wissen nicht, wer sie waren, es gibt keine Grabmäler, keine Denkmäler, keine Erinnerungen, wir wissen nicht, wie viele das waren. Die Täterforschung ist, womit wir uns auseinandersetzen müssen, weil dass die KZ-Opfer zu bedauern und zu beklagen sind, das würde jeder unterschreiben. Da kann man sich finden, das ist höchst unverfänglich. Sobald ich mich mit den Tätern beschäftige, und das sind hier in Österreich und Deutschland nun mal unsere Großväter und unsere Urgroßväter, wird das viel heikler und es sind Institutionen, die es immer noch gibt, die da beteiligt waren. Das wurde aus guten Gründen lange Zeit verschleppt. Und deswegen sind das eben – wie die Wehrmachtsausstellung damals – Dinge, die viel mehr Protest und Widerstand hervorrufen.
Tatsächlich gelingt es Ruzowitzky in diesem Film, die gesamtgesellschaftliche Dynamik dieser schrecklichen Zeit zu beschreiben, die Verhetzung, phantasierte Bedrohung, die schrittweise Entrechtung, Entwürdigung und schließlich Entmenschlichung und Dämonisierung der Juden durch die Nazis. In scharfen Analysen beschreiben dann im Film Historiker, Psychologen und auch ein Priester wie das Unvorstellbare geschehen konnte: Da waren der Gruppendruck, die Auftragserteilung von oben und die damit verbundene Zerstreuung der Verantwortung, der Triumph des Sieges und das Gefühl, nicht falsch liegen zu können. Dann geschahen die ersten Massaker, beim weiteren Morden trat ein Gewohnheitseffekt ein, es wurde zur Normalität, die Erschießungen geschahen am helllichten Tag, es sahen viele Menschen zu und nichts geschah den Tätern. Durch Dehumanisierung wurde – trotz körperlicher Nähe zu den Opfern – eine psychologische Distanz zu ihnen geschaffen. So manche Soldaten gerieten in einen Blutrausch und phantasierten, sie müssten auch die jüdischen Kinder unbedingt töten, weil sie sich sonst rächen würden und alles endete mit weit verbreitetem Selbstmitleid der Täter.
Das Einbeziehen der Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen wie des „Milgram“- oder des „Stanford- Experimentes“ zeigt, dass diese Dynamiken bei allen Menschen auslösbar sind, die Täter jedoch damit nicht von ihrer individuellen Verantwortung befreit sind. Denn: Der Film zeigt auch sehr deutlich, dass es den Soldaten sehr wohl möglich war, Nein zu sagen, ohne schlimmere Strafen befürchten zu müssen.
Die Lehre aus dem Film: „Ich glaube nicht, dass wir die Natur des Menschen ändern können, wir können aber sehr wohl die politische Kultur ändern“, sagt der Historiker Browning im Film. Menschliche Abgründe zu verstehen und für die Zukunft sicherzustellen, dass so etwas nicht mehr geschehen kann – deshalb sollte sich jeder mündige Bürger diesen Film ansehen.
Der Film erschlägt den Zuschauer nicht – trotz dieser monströsen Fragen – und trägt Ruzowitzky in österreichischen Kritiken sogar den besserwisserischen Vorwurf ein, zu vereinfachen und nur einen geringen Erkenntniswert erbracht zu haben.
Ruzowitzky: Es gibt viele Filme über diese Themen, die gut gemeint sind, aber wo man weiß, eigentlich ist es fad und eigentlich erreiche ich damit niemanden. Ich hatte immer das Gefühl, dass seitens der jüdischen Gemeinschaft oder auch von Holocaustopfern das oberste Prinzip war: Nicht vergessen und darüber reden. Worauf man aber heute stößt, ist der Gedanke, dass wenn über den Holocaust gesprochen wird, dann muss das auf höchstem akademischen Niveau in sehr elitären Kreisen, weil das gemeine Volk kann das gar nicht fassen, und das finde ich besonders blöd oder damit kann ich besonders wenig anfangen.
Erreicht der Film die richtigen Leute?
Es ist immer das Problem bei Filmen, die auf irgendeine Art politisch sind, dass man in erster Linie die Leute erreicht, die ohnehin derselben Meinung sind. Also ich glaub’ jetzt nicht, dass Neonazi-Abordnungen sich den Film anschauen werden. Was ich weiß ist, dass sehr viele Schüler hingehen …
Wie wird er bis jetzt rezipiert? Also wie sind die Zuschauerzahlen?
Viele Schulen kommen laufend. Das ist in Österreich um einiges besser als in Deutschland im Allgemeinen. Ich schätze, wir werden jetzt so auf 15.000 Zuseher kommen, was für einen Dokumentarfilm mit so einem Thema okay ist.
Gibt es Interesse von Schulen?
Ich glaube eben, dass so ein Film jetzt auch für Schulen oder Schüler auf eine Weise rezipierbar ist ohne große Vorbereitung, weil der Film ja wirklich sehr versucht, sie dort abzuholen, wo sie sind. Also es ist jetzt keine Geschichtsdokumentation, wo man Vorwissen braucht, wo man sich eingelesen haben muss, sondern, ich glaube, es geht halt sehr direkt hinein, weil es um Fragen geht, wie Gruppendruck, Zivilcourage, … Das sind Dinge, die Jugendliche gerade in dem Alter ohnehin beschäftigen, wo sie sich auf einem anderen Level damit auseinandersetzen, ohne zu sagen: So, ich mache jetzt meine antifaschistischen Pflichtübungen. Bei einer Vorstellung des Films im Gartenbaukino waren über 700 Schüler anwesend. Also das war wirklich das erste Mal, dass ich so ein junges Publikum gehabt habe und die waren alle unglaublich aufmerksam, konzentriert. Besonders überrascht hat mich, dass im Anschluss an den Film eine sehr lebhafte Diskussion zwischen den Schülern und Schülerinnen und mir entstanden ist. Das heißt, der Film hat sie gepackt, hat sie nicht erschlagen. Das finde ich schon sehr erbauend.
Stefan Ruzowitzky (*1961 in Wien) ist ein österreichischer Filmregisseur und Drehbuchautor. Sein Spielfilm Die Fälscher wurde 2008 mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet. Sein neuester Film Das radikal Böse hatte im Jänner 2014 Premiere und läuft derzeit im In- und Ausland in den Kinos.