Das Landei als Jedermann

Der jüdische Schauspieler Leo Reuss verwandelte sich nach der Machtübernahme der Nazis in den blonden Landburschen Kaspar Brandhofer – und eroberte für kurze Zeit die Wiener Theaterwelt.

Der Jedermann stand 1920 am Anfang der Salzburger Festspieltradition. Neben Mozart ist dieses Stück bis heute das wichtigste Kulturgut der Salzach-Stadt. Und fast jeder, der dieses Weihespiel von Hofmannsthals und Reinhardts Gnaden kennt, weiß auch, dass darin ein reicher Mensch im Angesicht des nahenden Todes plötzlich ganz klein wird. Und dass ungefähr zur Hälfte des Abends der Ruf nach „Jeeeeedermann“ durch die Stadt hallt. Kein Wunder also, dass sich selbst international renommierte Filmstars wie Curd Jürgens und Maximilian Schell herbeiließen, diese Rolle zu spielen.

Wenig bekannt ist dagegen, dass ein anderer Filmschauspieler, der von Österreich in die USA emigriert war, schon 1937 den Salzburger „Jedermann“ hätte spielen sollen. Sein Name: Kaspar Brandhofer. Besser bekannt als Leo Reuss. Oder als Lionel Royce, wie er sich in seinen Hollywood-Jahren nannte. Max Reinhardt hatte – dafür gibt es Hinweise – bereits mit ihm verhandelt.

Da hatte in Wien bereits mancher Theaterkritiker vom „Erdgeruch des Echten“, den dieser blonde, kernige Naturbursch in das „verlogene Machwerk“ von Arthur Schnitzler bringe, geschwärmt. So geschehen 1936, als sich das Josefstadt-Publikum von einem „Naturgenie“ hingerissen zeigte, während bereits zwei Jahre vor dem „Anschluss“ antisemitische Untergriffe und Obertöne aus dem Nachbarland nach Österreich schwappten. Der Bauer Kaspar Brandhofer, der angeblich zuvor nie die Kunst des Darstellens studiert hatte, feierte als Herr von Dorsday in Schnitzlers Fräulein Else seinen Durchbruch. Dass es sich bei Brandhofer in Wahrheit um den jüdischen Schauspieler Leo Reuss handelte, ahnten damals wenige.

Vom Großsonnberg in die Josefstadt

Reuss, 1891 in Galizien geboren, hatte zwar in Wien debütiert, seine schauspielerische Blüte war danach allerdings in Deutschland erfolgt. Mit seiner Geliebten, der Schauspielerin Agnes Straub, hatte er bis Ende der 1920er Jahre das Theaterleben Berlins mitgeprägt. Mit ihr trat er in der Volksbühne und am Schiffbauerdamm auf, und bis zu seiner Flucht vor den Nazis leitete er das „Agnes-Straub-Tournée-Ensemble“. Zwar genoss Reuss nicht das Renommee seiner Kollegen Fritz Kortner oder Albert Bassermann, aber er war doch in der Branche gut bekannt.

Wie viele Schauspieler jüdischer Herkunft bekam allerdings auch er im Jahr 1933 Probleme. Zwei Jahre nach Hitlers Machtübernahme floh er nach Wien. Als Leo Reuss blitzte er aber bei den Wiener Bühnen ab. Einen deutschen Schauspieler brauchte man dort etwa so dringend wie den berühmten Kropf. Also kam Reuss die Idee zu (s)einer Metamorphose. Er inszenierte sich als „Landei“, aus dem er wenig später einen neuen Schauspieler pellen konnte: Ein „Naturtalent“ aus den Salzburger Bergen. Im Frühling 1936 zog sich Reuss in den Salzburger Pinzgau zurück, wo Agnes Straub ein Landgut besaß. Das am Großsonnberg gelegene Anwesen wurde zum Schauplatz seiner sorgfältig geplanten Verwandlung.

Blond auf Brust und Bein

Zuerst eignete er sich den Bergbauern-Dialekt einigermaßen überzeugend an. Perfekt wurde seine Tarnung aber erst durch seine Ganzkörper-Blondierung. Reuss beschränkte sich dabei nicht nur auf Kopf- und Barthaare. Auch Brust- und Beinhaare mussten blondiert werden, um nicht beim Umziehen in der Garderobe von Kollegen entlarvt zu werden. Um dies zu erreichen, badete Reuss in verdünntem Wasserstoffsuperoxyd – eine Prozedur, die ihm später den Spitznamen „Wasserstoff-Arier“ eintrug. Mit der Haarfarbe änderte sich auch Reuss’ Körperhaltung. Als er dann als Kaspar Brandhofer im Theater in der Josefstadt vorsprach, saß diese „private“ Rolle bereits perfekt. Als man ihn aufforderte, einen Monolog zu sprechen, stellte sich der vorgebliche Bergbauer dumm: Ein Monolog? „A ja, ich versteh’ schon, eine Zwiesprach’ mit mei’m Herrgott.“ Nach dem gelungenen Täuschungsmanöver bemühte er sich um ein Vorsprechen bei Max Reinhardt. Dieser empfahl ihn aber vorher noch nach Wien, wo dem „urigen Naturtalent“ gelang, was dem zuvor aus Berlin kommenden Leo Reuss nicht gelungen war: Ernst Lothar engagierte ihn für seine Dramatisierung von Arthur Schnitzlers Fräulein Else.

Zu dieser Zeit gab der neue Josefstadt-Star bereits allzu gerne Interviews. Der Neuen Freien Presse erzählte er, wie er auf hochgelegenen Almen beim Viehhüten oder im Wald beim Holzhacken immer einen Klassiker in seiner Lederhosentasche gehabt und Rollen wie den Romeo, den Hamlet oder den Macbeth einstudiert habe. Trotz seiner perfekten „Brandhofer“-Darstellung flog Leo Reuss nicht allzu lange nach seiner Schnitzler-Premiere auf. Einstige Schauspielerkollegen aus Berlin hatten ihn erkannt. Sein Auftritt im Theater in der Josefstadt löste über Österreichs Grenzen hinaus einen Theaterskandal aus. Kurz davor war er allerdings noch mit weiteren Rollenangeboten bedrängt worden – so auch von Max Reinhardt, der ihn für die Salzburger Festspiele 1937 engagieren wollte.

Sieben Jahr später fast ein „Jedermann“:
Leo Reuss (Berlin, 1930)
Foto: Willinger/ÖNB-Bildarchiv/www.picturedesk.com

Der damalige Chef der Festspiele muss wohl, wie das Wiener Publikum, am 8. Dezember 1936 aus allen Wolken gefallen sein, als Zeitungen die Meldung brachten, dass Kaspar Brandhofer in Wahrheit der jüdische Schauspieler Leo Reuss sei. „Alle, auch Max Reinhardt“, seien von dessen großer Verwandlungskunst getäuscht worden, schrieb die Neue Freie Presse damals. Die Geschichte ging wochenlang durch die internationalen Medien. Reuss konnte um einiges mehr als die von Andy Warhol bescheinigten 15 Minuten Berühmtheit für sich verbuchen und schaffte damit im Jahr 1937 – nach seiner Emigration in die USA – einen Vertrag bei MGM. Doch weder der ihm zur Seite gestellte Englischlehrer noch der Drama Coach und der vom Publicity Department erfundene neue Name „Lionel Royce“ verhalfen ihm zum Durchbruch. Seine erste, winzige Rolle erhielt er in dem Kostümfilm Marie Antoinette, später verkörperte er vor allem den „Bad German“ in Anti-Nazi-Filmen. Zu den mehr als 40 Filmen, an denen Reuss bis zu seinem Tod 1946 mitwirkte, zählen Confessions of a Nazy Spy (1939) und The Hitler Gang (1944), aber auch Tarzan and the Amazons (1945). Während er sich in den USA endlich frei zu seinem Judentum bekennen durfte, musste Reuss in drittklassigen Kriegsfilmen den Nazi spielen, um in Hollywood überleben zu können.

Wie fürs Kino gemacht …

Ein an Irrungen und Wirrungen reiches Leben, das für Filmemacher ein gefundenes Fressen sein müsste. Nicht nur, weil die Wiener Köpenickiade des Leo Reuss so unglaublich wie unterhaltsam ist, sondern weil seine gesamte Lebensgeschichte beispielhaft ist – für die Nöte und Leiden vieler jüdischer Emigranten seiner Zeit. Beispielhaft aber auch für die wachsende antisemitische Stimmung in Österreich vor dem „Anschluss“. Seine Camouflage gab außerdem die Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis der Lächerlichkeit preis. Kein Wunder also, dass Oskar Werner ein Drehbuch über dieses besondere Exemplar eines Schauspieler-Kollegen schrieb – sich selbst quasi auf den Leib. Das Projekt wurde leider nie verwirklicht. Auch der österreichische Regisseur Wolfgang Glück (38 − auch das war Wien) plante eine entsprechende Verfilmung. Als Billy Wilder versprach, das Drehbuch mit sprühenden Pointen aufzupolieren, winkte dafür sogar ein Vorvertrag mit dem Columbia Studio. Um die geradezu zynische Ironie von Reuss’ Lebensgeschichte herauszuarbeiten, wäre Wilder sicher der beste Partner für Wolfgang Glück gewesen. Trotz bestem Einvernehmen der beiden – Glück war es auch, der einige Jahre später Billy Wilder nach Wien locken konnte – scheiterte letztlich auch dieses Vorhaben. Die bittere Realsatire des Schicksals von Leo Reuss schien alle ernsthaft angestrebten Filme über sein Leben zu verhindern.

Hans Weigel, der Reuss’ Premierenabend im Theater in der Josefstadt miterlebt hatte, fasste dessen Geschichte damals in prophetische Verse: Seine Ballade vom blonden Bart kursierte als Manuskript unter Freunden. Als Weigel Reuss kennenlernte, überreichte er ihm ein Exemplar, und dieser trug es in geselliger Runde vor. Die letzte der 24 Strophen lautet:

Und die Moral von der Geschicht’:
Begabung braucht man heute nicht/
Im freien Österreiche.
Es kommt nur auf den Vollbart an!
So streng sind dort die Bräuche …“

… und fürs Theater geschrieben

Etwas mehr als sechs Jahrzehnte nach Hans Weigel nahm sich der österreichische Dramatiker Felix Mitterer der Geschichte von Leo Reuss an. In dem am 24. Jänner 1998 im Wiener Volkstheater uraufgeführten Stück In der Löwengrube nimmt sich Mitterer einige fiktionale Freiheiten. So kommt es in seinem Stück während einer Aufführung von Hedda Gabler in Stettin beim Auftritt des Protagonisten zu einem von der SA organisierten Krawall, worauf der in Galizien geborene Schauspieler ins ständestaatliche Österreich flieht. Doch in Wien trifft er auf den latenten Antisemitismus des Austrofaschismus. Infolgedessen wird auch in Mitterers Version aus dem jüdischen Schauspieler ein blonder, vollbärtiger Bauer. Mitterer, der – wie er in seinem Vorwort schreibt – diese Geschichte bereits seit den 1970er Jahren kennt und von ihr nicht mehr losgelassen wurde, spitzt die Handlung noch zu: Arthur Kirsch alias Benedikt Höllrigl – also Leo Reuss alias Kaspar Brandhofer – geht nicht nach Wien, sondern feiert seinen Triumph mitten im nationalsozialistischen Berlin. Wie der biblische Daniel kehrt er in die Löwengrube zurück, an jenes Theater, aus dem er vertrieben wurde. Der Autor verhilft Leo Reuss so zu dem, was ihm im Leben versagt geblieben ist: zu einem grandiosen Sieg, der aber nicht ohne Bitternis bleibt – Goebbels persönlich ehrt den Schauspieler …

Schließlich folgte 2005 noch eine Biografie über Leo Reuss – verfasst von Gwendolyn von Ambesser, der Tochter des Regisseurs, Autors und Schauspielers Axel von Ambesser. Ihr Werk unter dem Titel Die Ratten betreten das sinkende Schiff. Das absurde Leben des Leo Reuss ist als Roman und weniger als wissenschaftliches Werk zu sehen und – wie schon der Titel verheißt – originell, aber etwas zu geschwätzig. Den großen Film über das absurde Leben des jüdischen Nazi-Darstellers in Hollywood wird es vielleicht nie geben. Es sei denn, der österreichische Filmproduzent Kurt Mrkwicka macht seinen Vorsatz doch noch wahr.


Ich hätte gern ein gutes Drehbuch – mit viel Humor“

Der Wiener Filmproduzent Kurt Mrkwicka möchte das Leben von Leo Reuss verfilmen. Ein abenteuerliches Projekt mit Hindernissen.

NU: Wie kommt es, dass Sie – auch nach dem Rückzug aus Ihrer MR-Filmfirma – das abenteuerliche Leben von Leo Reuss verfilmen wollen?
Kurt Mrkwicka:
Die Idee ist mir schon vor etwa drei Jahrzehnten gekommen, als ich mit dem US-Regisseur Marvin J. Chomsky den opulenten Sechsteiler Die Strauß-Dynastie drehte. John Gielgud spielte damals mit, und dazu noch viele andere wie Anthony Higgins, Edward Fox und David Cameron. Aus Österreich waren Julia Stemberger, Gideon Singer, Wolfgang Böck und Franz Morak mit dabei. Chomsky hatte davor die erfolgreiche Holocaust-Serie gedreht. Seither hat mich der Reuss-Stoff all die Jahre nicht losgelassen, aber irgendwie ist nie ein ordentliches Drehbuch zustande gekommen.

Aber es gab bereits mehrere Drehbücher über diesen Stoff, unter anderem von Oskar Werner und letztlich auch das Theaterstück von Felix Mitterer. Wäre davon nicht etwas für eine Verfilmung interessant gewesen?
Von dem Drehbuch von Oskar Werner habe ich zwar gehört, ich habe es aber nicht auftreiben und daher auch nicht lesen können. Mit Felix Mitterer war ich lange in Verhandlung – er hatte mir aber kein wirkliches Drehbuch, sondern das Theaterstück geliefert, das mir zwar sehr gut gefallen hat, aber es war mir zu ernst. Ähnlich ging es mir mit dem Drehbuch von Wolfgang Glück. Auch er ist mit viel Respekt an die Lebensgeschichte herangegangen, aber nicht mit dem Humor, den ich gerne gehabt hätte. Gemeinsam mit Billy Wilder wollte er seine Reuss-Geschichte noch mit diversen Pointen aufpolieren. Aber letztlich ist dann doch nichts daraus geworden.

Warum ist Ihnen der Humor für die Lebensgeschichte von Leo Reuss so wichtig?
In Österreich und Deutschland wurden immer wieder Filme – wichtige Filme – zum Thema Holocaust, Hitler und das Nazi-Gräuelregime gedreht. Dabei zeigten Drehbuchautoren, Regisseure und auch die Produzenten vor allem sehr viel Respekt vor diesem Thema, was auch gut und wichtig ist. Aber mit einer Portion Humor würden solche Geschichten beim Publikum sogar noch tiefer gehen. Und welches Leben würde sich besser für einen tragikomischen Zugang eignen als das von Leo Reuss: Ein Jude, der 1936 aus Berlin vor den Nazis flüchtet und sich dann in Wien blond färbt, um als „arischer“ Schauspieler wieder Theater spielen zu können. Seine Tragikomödie geht ja in Hollywood noch weiter. Dort wird er zwar als Jude akzeptiert, darf aber in den Filmen nur seine eigenen Feinde – die „ugly Germans“ – spielen. Das klingt fast nach einem Film von Quentin Tarantino.

Die mobile Version verlassen