Vanessa F. Fogels Debütroman „Sag es mir“ erzählt die Geschichte des Großvaters der Autorin, der den Holocaust überlebte.
Von Michael Kerbler
Als das Flugzeug landet, kaum polnischen Boden berührt hat, wendet sich der alte Mann seiner Enkelin zu und äußert eine Bitte: „Ich will ein Buch. Ich will ein Buch über mein Überleben. Ich will, dass meine Geschichte gedruckt wird.“
Nein, das Buch, das Vanessa F. Fogel geschrieben hat, erschöpft sich nicht in der Nacherzählung der Biografie ihres Großvaters. „Die Geschichte meiner Großeltern“, sagt Vanessa F. Fogel, „hat mich immer interessiert, aber ich bin nicht das Gedächtnis meines Großvaters. Ich wollte nicht ausschließlich die Geschichte eines Überlebenden schreiben. Nicht, weil dies nicht genug wäre, ich wollte diese Geschichte mit der Gegenwart verbinden.“ Diese Antwort gibt mir Vanessa F. Fogel auf meine Frage, warum sie mit dem Schreiben begonnen habe, warum sie Sag es mir verfasst hat. So heißt das Erstlingswerk der dreißig Jahre jungen Frau, die in Deutschland geboren, im Alter von vier Jahren mit den Eltern nach Israel („ein Land, in dem Angst ein Alltagsgefühl ist“) übersiedelte und schließlich in den USA groß geworden ist.
Der Großvater hat den Holocaust überlebt und er will seiner Enkelin seine ehemalige polnische Heimat zeigen und jene Orte, über die er lange Zeit geschwiegen hat.
„Weißt Du“, sagt der Großvater zu seiner Enkelin Fela, „es war Glück. Zufall. Ich bin nicht stärker, nicht schlauer als jeder andere.“ Auf dem Weg durch Polen nimmt die Geschichte unerbittlich Gestalt an. Die Gestalten tragen SS-Uniform, aber es sind auch die Gestalten der polnischen Nachbarn, die wieder Name und Gesicht annehmen, die damals zugesehen und mitgeholfen haben bei den Deportationen. „Das Herz stumpft ab“, sagt Opa, als wäre das eine physiologische Tatsache.
Zurück in Deutschland will sie die Geschichte des Krieges aus der Perspektive der Großmutter hören. Doch die hat längst beschlossen zu schweigen. Beides bleibt Fela fremd – dieses beharrliche Schweigen der Großmutter ebenso wie das viele Monologisieren des Großvaters. Fela will aber auch ihre Eltern verstehen: den Vater, der ein begeisterter Zionist ist und den Nahostkonflikt als Katharsis hin zu einem ewigen Frieden sieht und ihre Mutter, die den Kriegszustand als Beweis anführt, dass man in Israel gar nicht leben kann und als Jude nicht sicher ist. „Hier hat noch nie Frieden geherrscht“, sagt die Mutter in einer der Auseinandersetzungen. „Seit Israel besteht, hat es immer irgendeinen Krieg gegeben. Warum soll das in Zukunft anders sein?“ Nicht zuletzt will Fela, dass ihre Eltern zusammenbleiben. Doch diesen Gefallen erfüllen ihr die beiden nicht. Das Mädchen reagiert mit der Bemerkung: „Meine Familie ist heute gestorben“ – obwohl sie weiß, was der wirkliche Tod in ihrer Familie angerichtet hat. Doch was sie will, ist Zusammenhalt.
Die Handlung des Romans oszilliert zwischen Deutschland, Polen, Israel und den USA. Er dokumentiert den Selbstfindungsprozess der jungen Frau, der auf dem Schulhof in Israel beginnt, als die kleine Fela als „Nazi“ beschimpft wird, zutiefst getroffen ist und sich zum ersten Mal die Frage nach ihrer Identität stellt. Sag es mir erzählt nicht nur von ihrer Erwachsenwerdung, sondern vor allem von ihrer Suche nach Identität als Vertreterin der dritten Generation – derer, die als Letzte mit Überlebenden der Schoah aufwachsen. Somit kann Sag es mir als ein besonderes Dokument der jüdischen Enkel-Generation gesehen werden, die auf neue Weise versucht, Schoah und Diaspora zu verstehen.
Fast hätte ich es vergessen zu erwähnen: „Nu“ ist Felas Lieblingswort.
Vanessa F. Fogel
Sag es mir
Weissbooks, Frankfurt am Main 2010, 19,80 €