Seit 2013 nimmt die jüdische Bevölkerung erstmals seit dem Holocaust weltweit zu. Seine Aussagen darüber stützt Guy Bechor auf Zahlen und statistische Fakten. VON JOHANNES GERLOFF, JERUSALEM Wenn dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern nicht bald durch eine Zweistaatenlösung ein Ende gesetzt wird, ist der jüdische Charakter des Staates Israel ernsthaft gefährdet. Israelische Politiker aus dem gesamten Spektrum malen seit Jahren ein Schreckensszenario an die Wand. Die Hauptbedrohung Israels heute ist die demografische Entwicklung. Die Angst geht um, dass das jüdische Volk in absehbarer Zeit zur Minderheit im eigenen Staat werden könnte. Auch Nahostpolitiker aus dem Ausland werden nicht müde zu mahnen, dass die Zeit gegen Israel spiele. Der amerikanische Außenminister John Kerry verursachte Ende April einen Sturm der Entrüstung mit der offen ausgesprochenen Befürchtung, Israel habe im Falle des Scheiterns einer Zweistaatenlösung keine andere Wahl, als ein Apartheidstaat zu werden. Möglicherweise ist diese Denkweise ein Grund dafür, warum auf palästinensischer Seite die Zweistaatenlösung nur sehr bedingt auf Begeisterung stößt. Warum sollte man sich als Palästinenser auch um einen Ausgleich mit dem jüdischen Staat bemühen, wenn Zeit und Kinderzahl diesen ohnehin hinfällig werden lassen? Guy Bechor wagt dieses weithin akzeptierte Politparadigma in Frage zu stellen. Der Jurist und Historiker beobachtet im gesamten Nahen Osten „einen Kollaps der muslimischen Geburtenrate“, der auch die Palästinenser und israelischen Araber nicht unberührt lässt. Gleichzeitig gibt es „einen dramatischen Anstieg der Geburtenrate bei der jüdischen Bevölkerung in Israel“. Bechor stützt seine Aussagen nicht etwa auf hoffnungsvolle Spekulationen oder eine religiöse Ideologie, sondern auf Zahlen und statistische Fakten, die jedermann überprüfen kann. Grundlage seiner Erkenntnisse sind Daten, die zwei Institutionen veröffentlicht haben: das Zentrale Statistikbüro des Staates Israel und der amerikanische Nachrichtendienst CIA auf seiner Internetseite World Fact Book, die in Fragen der Demografie und der Wirtschaft als sehr zuverlässig gilt. Ist es tatsächlich möglich, dass sich sowohl die öffentliche Meinung als auch die Nahostpolitik des Westens auf Daten stützt, die seit mehr als einem Jahrzehnt veraltet sind? Europa kollabiert Zunächst einmal ist zu verstehen, dass eine Gesellschaft mindestens 2,1 Kinder pro Familie braucht, um eine Zukunft zu haben. Alles, was darunter liegt, ist „negatives Wachstum“, erklärt Bechor. Unter diesem Gesichtspunkt kollabieren die Gesellschaften Europas, wenn dort Paare im Durchschnitt nur noch 1,1 bis 1,3 Kinder in die Welt setzen. „In Europa fehlt die nächste Generation“, stellt Bechor fest. Aber auch Länder wie die Türkei, der Iran und Nordafrika verzeichnen einen negativen Trend, weil dort überall nur noch weniger als zwei Kinder pro Familie geboren werden. Gebar eine Frau in Saudi-Arabien 2003 im Durchschnitt noch mehr als sechs Kinder, waren es 2013 nur noch 2,2. Hatte eine Palästinenserin 2003 im Durchschnitt noch fünf Kinder, waren es zehn Jahre später nur noch 2,7 – und das bei gleichbleibender Tendenz. Betrachtet man die Geburtenraten in Europa, Nordafrika und dem Nahen Osten, gibt es nur noch in Israel mehr als drei Kinder pro Familie. Interessanterweise sind der Grund für den Babyboom der Israelis nicht die ultraorthodoxen oder arabischen Segmente der Gesellschaft. Ausgerechnet diejenigen, die so große Angst davor haben, im eigenen Staat zur Minderheit zu werden – die Säkularen, Zionisten und Nationalreligiösen –, bekommen die meisten Kinder. Ein Ehepaar von „Sabres“, das heißt in Israel geborenen Juden, zieht momentan im Durchschnitt sogar 3,4 Kinder auf. Immerhin sind mittlerweile 71,3 Prozent der Juden in Israel „Sabres“. Die säkularen, in Israel verwurzelten Familien haben ihre Norm von einst drei Kindern auf heute vier erhöht. Nicht wenige Haushalte haben sogar fünf oder sechs Kinder. Den absoluten innerisraelischen Rekord beim Kinderkriegen hält aber der national-religiöse Teil der Bevölkerung. An den Durchschnitt von fünf Kindern pro Familie kommen momentan nicht einmal Somalia oder der Irak heran. Die Einwohner von Judäa und Samaria, die sogenannten „Siedler im Westjordanland“, haben aktuell im Durchschnitt sechs Kinder pro Familie. Wohnen im biblischen Judäa und Samaria heute 400.000 Juden, in Ostjerusalem noch einmal 300.000, was zusammen 700.000 macht, dann werden sie angesichts der aktuellen Geburtenrate bald eine Million sein. Guy Bechor zeigt: Israel ist das einzige Land im Nahen Osten und der westlichen Hemisphäre, in dem die Geburtenrate steigt. Gründe für den Wachstumsrückgang der palästinensischen Bevölkerung Mitte der 1990er-Jahre kam es in Israel und der Palästinensischen Autonomie zu einer spürbaren Zunahme der arabischen Kinder. Grund dafür war, dass nicht nur 40.000 PLO-Kämpfer in diese Gebiete einreisen durften, sondern auch im Rahmen von Familienzusammenführungen 140.000 Palästinenser die israelische Staatsbürgerschaft erhielten. Abgesehen von diesem politisch bedingten Bevölkerungswachstum nimmt die Zahl der palästinensischen Araber zwischen Jordan und Mittelmeer seither aber beständig ab. Dafür nennt Bechor folgende Gründe: Die Urbanisierung der palästinensischen Bevölkerung macht sich bemerkbar. 75 Prozent der palästinensischen Bevölkerung wohnt in Städten und braucht damit aus rein wirtschaftlichen Überlegungen heraus keine elf Kinder mehr. Zudem ist es schwer, eine Stadtwohnung für eine Familie dieser Größe zu bekommen. Ein weiterer entscheidender Faktor der demografischen Entwicklung im Heiligen Land ist die Tatsache, dass immer mehr israelische Araber und Palästinenser ins Ausland – vor allem nach Europa, aber auch nach Nordund Südamerika – abwandern. Je höher die Bildung, so beobachtet Bechor, desto größer die Mobilität und Bereitschaft, sich in einem anderen Kulturraum zurechtzufinden. Lautstarke Führungspersönlichkeiten unter den israelischen Arabern bezeichnen sich in den letzten Jahren vermehrt als „Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft“. Sie verweigern sich selbst und ihrer Jugend die Eingliederung in die moderne Gesellschaft des jüdischen Staates. Dadurch machen sie sich tendenziell zu Außenseitern und fördern so den Trend zur Auswanderung in ihrem Gesellschaftssektor. In den vergangenen Jahren haben jährlich zwischen 10.000 und 17.000 junge Palästinenser ihre Heimat verlassen. Schließlich steigt auch das Heiratsalter, vor allem bei den Frauen. Auch arabisch-palästinensische Frauen wollen arbeiten und sich nicht mehr nur um Kinder kümmern. Bechor betont, dass die Entwicklung der Geburtenraten unter Arabern ein regionales Phänomen ist, also nicht ausschließlich die Palästinenser betrifft. Der Geburtenrückgang ist nicht nur im islamisch geprägten Umfeld des Staates Israel zu beobachten. Auch Drusen und arabische Christen innerhalb Israels weisen eine negative Geburtenrate von weniger als 2,1 Kindern pro Frau auf. Selbst bei den traditionell äußerst kinderreichen ultraorthodoxen Juden in Israel geht die Geburtenrate zurück. Als weiteren Grund für den Geburtenrückgang bei Israels Arabern und Ultraorthodoxen nennt Bechor auch noch die massive Kürzung des Kindergelds in Israel im Jahr 2003. Seither sei klar, „dass Kinder im Staat Israel keine Einkommensquelle“ mehr seien. Allerdings überzeugt dieses Argument nur, wenn man den Vergleich mit dem europäischen Ausland außer Acht lässt. Eine Familie mit fünf Kindern bekommt heute in Israel weniger Kindergeld, als ein Ehepaar in Deutschland für das erste Kind – und das bei deutlich höheren Lebenshaltungskosten in Israel. Aber auch schon vor 2003 war in Israel mit Kinderkriegen finanziell nicht viel zu holen. Ursachen der steigenden Geburtenrate bei den israelischen Juden Bechor nennt zunächst die Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Immigranten kamen in Israel mit den 1,5 Kindern im Durchschnitt an, die in Russland Sitte waren. In ihrer neuen Heimat genossen sie die – vor allem gesellschaftliche – Freiheit, mehr Kinder haben zu dürfen und haben jetzt drei pro Familie. Offensichtlich hat auch die von den Medien vielbeschworene wirtschaftliche Notlage in der israelischen Gesellschaft weniger mit der Realität zu tun, als behauptet wird. Den Einwänden, für Kinder hätten die heute 20- bis 40-Jährigen weder Geld noch Zeit, hält Bechor entgegen: „Jeder weiß, dass die Lage ausgezeichnet ist, so gut wie nie zuvor.“ Und schließlich sind Kinder aus Sicht junger Israelis eine Frage der Selbstverwirklichung. Wenn man in Kalifornien, dem US-Bundesstaat mit der niedrigsten Geburtenrate, die Leute fragt, warum sie so wenig Kinder zeugen, bekommt man zur Antwort: „Wir wollen uns selbst verwirklichen!“ Eigenartigerweise geben moderne, säkulare Israelis auf die Frage, „Warum willst du so viele Kinder?“, genau dieselbe Antwort: „Ich will mich selbst verwirklichen!“ Guy Bechor sieht in der hohen Geburtenrate des modernen Israel ein Zeugnis für den Optimismus, „das Gefühl, etwas Neues zu schaffen“, und das tiefe Verwurzeltsein dieser Menschen in ihrem Land. Er kommt zu dem Schluss: „Wenn es einmal eine demografische Bedrohung gegeben hat, existiert sie heute nicht mehr. Seit 2013 nimmt die jüdische Bevölkerung weltweit zu – erstmals seit dem Holocaust! – und das trotz der so viel beklagten Assimilation, und trotz unserer jüdischen Brüder in den USA, die nur 1,25 Kinder pro Frau zustande bringen.“
Dr. Guy Bechor leitet die Middle East Division an der Lauder School of Government. Er hat mehrere Bücher und wissenschaftliche Artikel über arabisches Zivilrecht und die Politik und Geschichte des arabischen Nahen Ostens geschrieben. Dr. Bechor ist Mitglied der israelischen Anwaltskammer (IBA) und des israelischen Presserats.