„Das aktuelle Leid schlägt das vergangene“

Tim Cupal am 8. Oktober 2023 in der Kampfzone nahe der Kibbuzzim Beeri und Re‘im. Dahinter ein von der Hamas zurückgelassener Pick-up. ©YOSI LEON

Von Danielle Spera

NU: Nach dem Massaker vom 7. Oktober kam es in den Medien relativ rasch zu einer Täter-Opfer-Umkehr. Wie wird das in den israelischen Nachrichten rezipiert?
Tim Cupal: Ich würde nicht von einer Täter-Opfer-Umkehr sprechen. Als ehemalige ZIB-Moderatorin kennen Sie die Unbarmherzigkeit des Nachrichtengeschäfts genauso gut oder besser als ich. Das Aktuelle schlägt in der weltweit öffentlichen Wahrnehmung das Vergangene, das jetzige Leid der Menschen in Gaza jenes der Menschen in Israel vor acht Monaten. Von Anfang an war allen Beobachtern klar, dass Israel diesen Krieg auf zwei Schauplätzen führen muss, nicht nur gegen die Hamas in Gaza, sondern auch gegenüber der Weltöffentlichkeit. Es ist auch ein Kampf um die öffentliche Meinung.

Die Medien in Europa und manche Medien in den USA zeichnen nach dem 7. Oktober ein kritisches Bild von Israel, da ist von einem Kolonialstaat und Apartheid die Rede. Das ließe sich doch leicht entkräften.
Meine Aufgabe ist es, über Fakten zu berichten, über das, was ist, was ich sehe, was ich höre und wahrnehme, nicht zu bewerten oder Meinungsjournalismus zu betreiben. Das versuche ich jeden Tag.

Auf US-amerikanischen Universitäten skandieren die Protestierenden neben „Burn Tel Aviv to the Ground“ oder „Jews go back to Poland“ auch „We are Hamas“. Wie kann es aus dem Blickwinkel eines Journalisten, der in Israel arbeitet, sein, dass die Hamas verharmlost wird?
Weil die meisten Menschen und schockierender Weise auch die meisten Studenten an US-Elite-Universitäten offenbar wenig oder keine Ahnung von diesem unheimlich komplizierten Konflikt im Nahen Osten haben. Ein Konflikt, der sich nicht durch eine einfache Schwarzweiß-Erzählung erklären lässt. Das betrifft natürlich auch die Hamas, ihre Geschichte als radikal-islamische Tochterorganisation der Muslimbruderschaft und ihr Ziel, das sich bis heute nicht verändert hat, nämlich ganz Israel zu zerstören. Ich setze hier seit Beginn meiner Korrespondententätigkeit auf eine klare Sprache. Die Hamas ist von der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft worden, also wird sie von mir auch genauso benannt.

In vielen Ländern, auch in Österreich, gibt es eine Vermischung von Anti-Imperialismus, Antikolonialismus und Hass auf Israel – und damit auch Hass auf Jüdinnen und Juden.
Zu den Protesten in Österreich kann ich nichts sagen, das ist zu weit weg für mich. Was ich aber sagen kann ist, dass Proteste wie in den USA oder auch zuletzt rund um den Songcontest in Schweden hier in Israel als rein antisemitische Kundgebungen wahrgenommen werden. Schade ist, dass manchmal auch berechtigte Kritik am Gazakrieg reflexhaft als antisemitisch zurückgewiesen wird und dadurch kein Diskurs zwischen Israel und seinen Verbündeten stattfinden kann – aber das ist mein subjektiver Eindruck.

Weltweit gibt es enorme und zum Teil gerechtfertigte Sympathie mit den Palästinenserinnen und Palästinensern, und dabei wird die Hamas ausgeblendet. Tragen Medien nicht dazu bei, dass hier Israel besonders kritisch bewertet wird? Hier kann man durchaus auch die israelische Zeitung „Haaretz“ nennen, die immer wieder von Israel-Kritikern als Kronzeugin verwendet wird: Seht her, die eigenen israelischen Medien sagen ja selbst, dass Israel ein Apartheidstaat ist.
Ich möchte im Detail nicht auf Haaretz eingehen, aber ich denke, dass alle israelischen Medien, auch Haaretz, wie die Bevölkerungsmehrheit hinter der existenziellen Notwendigkeit des Krieges stehen. Differenzen gibt es sicher in der Berichterstattung über die Art der Kriegsführung, über mögliche strategische Fehler, über politische Kritik und bei der Schwerpunktsetzung der Themen. Was mir als Auslandskorrespondent hier in Israel aber am meisten auffällt ist die Tatsache, dass Bilder der Zerstörung, der Verzweiflung und des Hungers aus Gaza, die wir in Europa täglich zu sehen bekommen, in den israelischen Medien kaum vorkommen. Gezeigt wird hier vor allem der Krieg aus israelischer Sicht: erfolgreiche Bombentreffer, Helmkameras, Drohnenbilder. Und es wird jeden Tag in allen Medien weiter über den Hamas-Terrorangriff vom 7. Oktober und über die Auswirkungen dieses entsetzlichen Tages berichtet. Also ja, es gibt in Israel jedenfalls eine andere Medienrealität – nicht wegen irgendeiner Art von Zensur, sondern einfach weil das Trauma des 7. Oktober das Land weiter fest im Griff hat und hier in Israel absolut im Vordergrund steht.

Welche Herausforderung stellt sich bei der Berichterstattung?
Für mich ist die Herausforderung in diesem Mehrfrontenkrieg, in dem sich Israel befindet, möglichst objektiv zu berichten. Auch über extreme Stimmen in Israels Innenpolitik oder über die Rolle radikaler jüdische Siedler im Westjordanland. Ich sehe dabei durchaus die Gefahr, dass viele verschiedene Schauplätze und Problemfelder im Nahen Osten zu einem diffusen Israel-Bild verschwimmen und damit anti-israelische Stimmung erzeugen könnten.

Stichwort Mehrfrontenkrieg: Israel wird täglich angegriffen aus dem Libanon und im Süden aus Gaza, mit Toten, mit Verletzten, hunderttausend Israelis mussten ihre Dörfer verlassen. Diese Nachrichten schaffen es kaum in die internationalen Medien und wenn nur vereinzelt.
Das würde ich so nicht unterschreiben. Gerade Anfang April hat es angesichts des massiven Drohnen- und Raketenangriffs aus dem Iran wieder eine weltweite Welle der Solidarität und der Unterstützung für Israel gegeben. Sollte eine Rakete der libanesischen Terrormiliz Hisbollah in bewohntem Gebiet hier in Israel einschlagen und mehrere Menschenleben fordern, wäre der weltweite Aufschrei unüberhörbar, davon bin ich überzeugt.

In den Gazastreifen kommen derzeit kaum Journalisten, das macht es für die Hamas leicht, mit ihrer Propaganda durchzukommen, denn man sieht meist nur Bilder, die von der Hamas kommen.
Westliche Journalisten haben derzeit keine Möglichkeit, aus dem Gazastreifen zu berichten. Israel und Ägypten verwehren Journalisten die Einreise – möglicherweise ein strategischer Fehler. Der ORF arbeitet weiter mit zwei lokalen Kamerateams in Gaza zusammen.

Wie waren Ihre Erfahrungen in Gaza? Sie haben ja selbst gesehen, wie sehr die palästinensischen Zivilisten als Schutzschild benützt werden.

Ich habe schon 2014 erlebt, dass sich die Hamas ganz bewusst in Spitälern verschanzt. Das hat zumindest damals in Gaza auch jeder gewusst. Ich war in den vergangenen Jahren immer wieder in Gaza. Die Hamas hat dort eine brutale Diktatur aufgebaut. Das vorherrschende Gefühl der meisten Menschen, mit denen ich in Gaza gesprochen habe, war Angst vor der Hamas und ihren Spitzeln. Aber natürlich hat es auch genug überzeugte und fanatische Anhänger gegeben.

Es scheint, als habe die Hamas in der internationalen Meinung einen Sieg errungen, Israel ist komplett in die Defensive geraten. Wie kann das weitergehen?
Israel muss der Welt glaubhaft vermitteln, dass man ehrliches Interesse daran hat, den Menschen in Gaza zu helfen – durch Hilfslieferungen, durch medizinische Versorgung und durch realistische strategische Ziele für die Zukunft. Nur so kann Israel hier wieder eine bessere Position erlangen.

Macht man sich in Israel Sorgen wegen der internationalen Diskriminierung? Berichten die Medien darüber?
Vor allem die Demonstrationen an US-Universitäten und rund um die Songcontest-Teilnahme Israels sind hier zuletzt sehr deutlich wahrgenommen und als antisemitisch eingestuft worden. Zunehmend gibt es aber auch Kritik am Verhalten der israelischen Regierung und der israelischen Diplomatie. Tatsache ist, dass das Verhältnis zwischen Israel und seinem engsten und wichtigsten Verbündeten USA so belastet ist wie noch nie zuvor, und das erhöht die existenzielle Bedrohungslage, in der sich Israel seit dem 7. Oktober befindet.

Sie waren selbst am Schauplatz der Massaker vom 7. Oktober, was machen diese Bilder mit einem?
Ich glaube, diese Frage kann ich erst in ein paar Jahren wirklich beantworten.

Tim Cupal begann als freier Journalist beim ORF-Radio und war ab 2010 in Washington und Brüssel tätig. Seit Juli 2019 ist er ORF-Korrespondent in Israel und leitet das Korrespondentenbüro in Tel Aviv. 2023 wurde er vom Branchenmagazin „Österreichs Journalist:in“ zum „Journalist des Jahres“ gewählt.

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