Schamael Natanow ist eine gute Seele. In seinem Geschäft im 15. Bezirk treffen sich Menschen aus vielen Nationen. Und sie alle fühlen sich von ihm gut behandelt.
VON PETRA MENASSE-EIBENSTEINER (TEXT)
UND ALEXANDRA KROMUS (FOTOS)
Wer den Hollywood-Schauspieler Danny DeVito in Wien treffen möchte, braucht nur Rudolfsheim-Fünfhaus, dem 15. Bezirk, einen Besuch abstatten und sich in das Geschäftslokal für „Waren aller Art“ Ecke Hütteldorfer Straße und Tannengasse begeben. Seine Kunden nennen ihn dort allerdings „Herr Natanow“ – und wissen gar nicht, dass er auch in Hollywood zugange ist. Aber vielleicht schaut unser Star dem aus den USA ja auch nur verblüffend ähnlich.
Schamael Natanow wurde 1944 in Samarkand, einer rund 350.000 Einwohner zählenden Stadt im heutigen Usbekistan (früher: Sowjetunion) geboren und verbrachte dort seine Jugend. 1972 reiste er als bereits verheirateter Mann mit seiner Frau und einem Kind nach Israel. Wie viele Bucharen wollte er dort ein neues Leben beginnen. Er wohnte mit seiner Familie in Aschdod, war neun Monate beim Militär und erlebte im Jahre 1973 den Jom-Kippur- Krieg mit. Er war zwar nicht in die Kämpfe involviert, half aber im Hintergrund aktiv mit. Schließlich aber wollte er – auch das verbindet ihn mit vielen seiner Landsleute – nicht in Israel bleiben. Wien kam seiner Erziehung und Kultur viel näher. Als er im Mai 1975 mit seiner Familie das Flugzeug besteigen wollte, hätte es fast Schwierigkeiten gegeben. Seine Frau war im neunten Monat schwanger. Keine Fluglinie will das Risiko eingehen, eine Frau in diesem Stadium mitzunehmen.
Da Frau Natanow jedoch von schmächtiger Statur war, glaubte man ihr, als sie vorgab, erst im sechsten Monat schwanger zu sein. Mit dieser kleinen Lüge konnte das Ehepaar samt Erstgeborenem die Flugreise von Israel nach Wien dann doch antreten.
Drei Wochen nach dem Eintreffen in Wien kündigte sich die Ankunft des zweiten Kindes der Familie an. Schamael Natanow konnte zu dieser Zeit noch kein einziges Wort Deutsch. Die Rettung holte die Frau ab, er aber durfte sie nicht im Krankenwagen begleiten. Die Sanitäter kümmerten sich auch gar nicht um den aufgeregten, fast schon verzweifelten Mann. Sie hatten es eilig und transportieren die knapp vor der Geburt stehende Frau ab. Auto hatte Natanow keines, die öffentlichen Verkehrsmittel Wiens waren ihm noch nicht vertraut, und so lief er zu Fuß mehrere Kilometer ins Krankenhaus zu seiner Frau. Schließlich wurde alles gut, eine Tochter kam zur Welt und Natanow hatte es rechtzeitig zum glücklichen Ereignis geschafft.
Der gute Geist des Theaters
Natanow betont stolz, dass er bereits wenige Tage nach seiner Ankunft in Wien im Tuchhaus Silesia in der Vorlaufstraße zu arbeiten begonnen hat. Dort wurde mit Tuch, Schneiderzubehör und Fellen gehandelt und es wurden Schneidereibetriebe beliefert.
Dann fand er noch einen zweiten Job: „Neben dieser Arbeit ich habe noch eine Arbeit gehabt. Am Abend, in der Nacht habe ich bei der Schauspielerin Frau Topsy Küppers als Bediener, Chauffeur, Bühnentechniker, Schauspieler gearbeitet. Ich war der gute Geist des Theaters, habe alles erledigt. Ich habe sogar einmal in einem Kafka-Stück mitgespielt. Ja wirklich, ich habe mit Topsy in der Freien Bühne Wieden gespielt.“ Noch eine Analogie zu Danny DeVito, wenn auch seine Bühnenrolle nicht ganz so groß gewesen sein wird.
„Ich hatte zwei Lohnkarten in dieser Zeit“, betont er. Von zeitig in der Früh bis zum Nachmittag arbeitete er im Tuchhaus, dann vom späteren Nachmittag an bis tief in die Nacht hinein in der Freien Bühne Wieden.
So ging das ungefähr zehn Jahre lang. Aber bereits nach rund sieben Jahren kaufte sich Natanow mit dem hart Ersparten ein Geschäft am Brigittenauer Hannovermarkt und verkaufte dort Obst und Gemüse.
„Das war mein erstes eigenes Geschäft“, wiederholt er mehrmals mit Stolz und freudig glänzenden Augen. Weitere Aktivitäten folgten: eine Tabak- Trafik im sechsten Bezirk gemeinsam mit seiner Frau und der Einstieg in die Produktion von Jeans, der allerdings kein Erfolg beschieden war. Immer waren es mehrere Geschäfte, die er gleichzeitig und mit wachsendem Erfolg betrieb.
1982 übernahm er „Waren aller Art“, das Geschäft im fünfzehnten Bezirk. Es war ein ganz kleiner Laden, den er in über 33 Jahren hindurch stetig erweiterte. Mit nun bereits rund 350 Quadratmeter und einer Länge von ungefähr 40 Metern ist das Geschäft heute schon riesig groß. Wenn Herr Natanow so weitermacht, wird er bald die zweihundert Meter entfernte Stadthalle erreicht haben. Es gibt nichts, was Schamael Natanow in seinem Geschäft nicht hat, und von jedem Produkt hat er viel. Jeder Zentimeter Wand oder Bodenfläche ist genutzt, dicht sind Elektrogeräte, Werkzeug, Töpfe, Kunststoffbehälter, Kluppen, Wolle, Geschirr und vieles mehr aneinandergereiht. Der einzige, der sich wirklich in dieser Fülle zurechtfindet, ist Herr Natanow selbst. „Mischa, geh nach hinten, rechts oben sind die Pfannen. Die dunklen mit dem roten Griff. Nicht dort, nein, weiter unten“, so dirigiert er seine Mitarbeiter, die bereitwillig ihrem stets freundlichen Chef folgen.
Vielen seiner Kunden fällt erst angesichts der Warenfülle im Geschäft ein, was sie alles noch so brauchen könnten. Es ist einfach alles da. Und wenn es tatsächlich mal einen Engpass bei ausgefallenen Wünschen gibt, notiert er die Telefonnummer des Nachfragers und besorgt das Gewünschte prompt. Man sagt, es gäbe nichts, das er nicht besorgen könne.
„Fast 90 Prozent bin ich da, viele Kunden kennen mich. Und mögen mich. Wenn ich nicht da bin, fragt Kunde, wann kommt Papa und kommt selber erst wieder, wenn ich da bin“, sagt Natanow verschmitzt auf die Frage, ob er angesichts seines Alters an den Ruhestand denkt. Sein Sohn hat die Firma bereits übernommen, aber ans Aufhören denkt Schamael Natanow keineswegs.
Ein bisserl gläubig, aber nicht allzu sehr
Natanows Publikum ist bunt wie auch der fünfzehnte Bezirk. Alle schätzen ihn und kommen gerne. „Eine Paket Kaffee, Chef“, ruft ein Stammkunde, und Natanow lässt ihm rasch das Gewünschte bringen. Der Handel mit Kaffee der eigenen Marke „Amigos“ ist neben dem Geschäft eine gute Einnahmequelle. Der Kaffee wird schon seit 28 Jahren in Italien produziert und von Natanow nach Serbien, Bosnien, Ungarn und Kroatien weiterverkauft. „In 40 Tagen sind es etwa 18 Tonnen, die ins Ausland gehen“, nennt Natanow eine doch erstaunliche Menge.
Nicht nur seine Statur, sein verschmitztes Lächeln und das lebhafte Wesen lassen Vergleiche mit Danny DeVito zu, auch seine Mehrsprachigkeit, beherrscht Natanow doch neben seiner Muttersprache Persisch noch Hebräisch, Russisch, Serbokroatisch, Polnisch, Englisch und Deutsch. Kein Wunder, dass sich Menschen aller Herkünfte bei ihm so wohl fühlen.
Natanow liebt Israel und Österreich. Er fliegt bis zu sechsmal im Jahr nach Israel, um seine Verwandten zu sehen, einige Tage am Toten Meer zu verbringen und das Grab seiner Eltern zu besuchen. Die Eltern sind als Pensionisten nach Israel gekommen und geblieben. Beide waren Lehrer. „Mutti war Physik und Vater war Deutsch und Literatur“, so Natanow.
Zu Hause im zweiten Bezirk lebt er koscher. Er hat eine große Küche. „Rechte Seite ist fleischig, linke Seite ist milchig. Ich esse aber auch draußen“, betont er. Nicht so einer seiner Söhne, der ein „richtig gläubiger Jude“ ist. „Er arbeitet am Schabbat nix, dann arbeite ich statt ihm“, lacht der tolerante Vater. Drei- bis viermal im Jahr gehe er selbst in die Synagoge, erzählt er und schiebt lachend „Das ist eh gut, oder?“ nach. Den Schabbat feiert die ganze Familie gemeinsam bei ihm und seiner Frau zu Hause. Seine Frau ist wie er „halbgläubig“, ein bisserl gläubig, aber nicht ständig und allzu sehr. Natanows erlernter Beruf ist Koch, und zu Hause kocht er, egal ob für die Familie oder für Besuch. Er bevorzugt die jüdisch-asiatische Küche und kommt dabei ganz ohne Kochbuch aus. Vor kurzem habe er für eine Bar Mizwa mit 40 Gästen gekocht, erzählt er voll Stolz.
Im Oktober 1992 wurde Natanow in seinem Geschäft im 15. Bezirk überfallen. Sein Angestellter wurde angeschossen, er selbst durch einen Bauchschuss schwer verletzt. Er lag lange Zeit im Koma. Wenn er lebhaft erzählt, wie er damals einen der Räuber am Boden mit letzter Kraft bis zum Eintreffen der Polizei festhielt, glaubt man, er erzähle aus dem Drehbuch zu einem tragisch-komischen Gangsterfilm. Aber wie so vieles andere, das im Leben des Schamael Natanow irgendwie unglaublich ist, aber doch tatsächlich geschah, so auch das.
Auf die letzte Frage, ob er denn Danny DeVito kenne, zieht Natanow die Augenbrauen hoch, überlegt, zögert und plötzlich versteht er die Frage. Ein verschmitztes Lächeln huscht über sein Gesicht: „Ja, ja, jetzt verstehe ich.“ Er ist eben ein humorvoller und kluger Mensch.