Kommentar von Nathan Spasić
Österreich impft. Im Dezember vorigen Jahres verkündete der Bundeskanzler: „Das ist der Anfang vom Sieg über die Pandemie.“ Ein vom Gesundheitsministerium entworfener Impfplan sollte der Leitfaden dafür sein. Zuerst die Alten, hieß es, dann die Jüngeren. Der Gesundheitsminister betonte, man wolle mit der Impfung zu den Betroffenen. In einer Pilotaktion wurden daher zum Jahreswechsel die ersten Dosen an ausgewählte Altersheime österreichweit verteilt. Schnell tauchten jedoch Medienberichte auf, wonach sich Politiker samt deren Mischpoche vorgedrängelt hätten. Zunächst wurde es um die Israelitische Kultusgemeinde laut (NU berichtete), wobei Präsident Oskar Deutsch schnell in den Fokus rückte. Gemeinsam mit jüngeren Gemeindemitgliedern soll er nämlich im Rahmen der Impfaktion im Maimonides-Zentrum selbst in den Genuss der Immunisierung gekommen sein. Man hätte aus Versehen mehr Impfdosen als nötig bestellt. Wegen der kurzen Haltbarkeit habe man daher übriggebliebene Impfdosen rasch verbrauchen müssen und im Umfeld des Hauses angefragt, heißt es. In einer Stellungnahme gegenüber NU bestätigt der Sprecher des Roten Kreuzes, Stefan Müller, dass in solchen Situationen „auf weitere Personen in dem Haus bzw. in der Gemeinschaft zurückgegriffen wird“. Es sei die zu dem Zeitpunkt festgelegte Vorgangsweise. „Die Entscheidung, wer sie bekommt, obliegt dem Haus bzw. dem Impfkoordinator vor Ort“, so Müller abschließend. Warum nicht vulnerablere Personen innerhalb der Gemeinde geimpft wurden, bleibt ein Mysterium. Israel Abramov, Obmann des Vereins bucharischer Juden, sprach von moralischen Verfehlungen seitens des Gemeindepräsidenten und forderte ihn zum Rücktritt auf. Daran denke er jedoch nicht im Geringsten, so Deutsch.
Nach und nach tauchten weitere Fälle dubioser Impfvergaben auf. Das prominenteste Beispiel für die Laissez-faire-Attitüde ist sicherlich der Fall in Vorarlberg. Dort wartete der 65-jährige Feldkircher Bürgermeister Wolfgang Matt (ÖVP) in einem Seniorenheim erfolgreich auf das Vakzin. „Ich könnte mich entschuldigen, in die Richtung, dass mir nicht eingefallen wäre auf die Schnelle, wer jetzt das noch nehmen könnte, die nächsten zehn Minuten“, so der Bürgermeister wörtlich in der ZiB 2. Es wäre schließlich schade, wenn man eine Impfdosis „wegschmeißen“ müsse, behauptete er allen Ernstes. Die zuständige Ärztin ließ dies nicht gelten: „Es sind noch viele Leute draußen gestanden, die eine Impfung dringender benötigt hätten.“ Einem selbst ist man ja scheinbar am Nächsten – ein Sittenbild.
Abgesehen von der moralischen Verpflichtung, die man von politischen Funktionären erwarten darf, ist es besonders empörend, dass sich einige Wenige das Recht herausnehmen, munter über Eigentum des Bundes zu bestimmen. Die nonchalanten Aussagen so mancher praecox Geimpfter lassen vermuten, dass sie sich fast schon als von Gottes Gnaden auserwählt betrachten – und keine Bauernaufstände fürchten. Das Erwachen dieses feudalen Anspruches lässt das Bundeskanzleramt jedoch nicht unbesorgt. „Hört endlich auf damit!“, so Sebastian Kurz. Es sei unsolidarisch, sich vorzudrängeln.
Doch ist diese mangelnde Solidarität nicht die logische Fortsetzung eines globalen Problems? Rund zwei Drittel der Weltbevölkerung könnten sich laut Studien der Hilfsorganisation Oxfam frühestens ab 2022 einer Impfung erfreuen. Covax, also die Organisation der WHO, welche als Reaktion auf die Corona-Pandemie gegründet wurde, meint gar, das sei überhaupt erst 2024 der Fall. Die meisten verfügbaren Impfdosen wurden nämlich von Staaten des globalen Nordens gekauft. Eine AstraZeneca-Impfdosis kostet die Europäische Union 1,78 Euro, während Uganda dafür rund 5,80 Euro hinblättern muss. Man könnte argumentieren, dies sei ein bedauerlicher Nebeneffekt der freien Marktwirtschaft, mit dem wir uns eben abfinden müssen.
Doch sollte es nicht umgekehrt sein, vor allem in Zeiten einer Pandemie? Sollten sich die Pharmakonzerne nicht damit abfinden, dass Impfdosen zu einem einheitlichen und fairen Preis an Staaten verkauft werden? Die Realität ist düster. Massenarbeitslosigkeit, eine weltweite Wirtschaftskrise ohnegleichen und steigende Schulden verleiten daher auch alte Freunde der Austeritätspolitik wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu unerwarteten Aussagen. So forderte sie noch im letzten Jahr „einen Marshall-Plan für Europa“ und plädierte dabei für finanzielle Unterstützungen in Milliardenhöhe. Ob dadurch ein nachhaltiges Ende der Coronakrise erreicht werden kann, bleibt fraglich – und auch, ob sich der globale Süden von den wirtschaftlichen Folgen erholen wird.