Markus Müller, Rektor der Meduni Wien, ist im Corona-Beraterteam des Bundeskanzlers. An Wunder glaubt der Mediziner nicht, obwohl er den Menschen für ein solches hält.
VON DANIELLE SPERA (TEXT) UND
OURIEL MORGENSZTERN (FOTOS)
Bereits auf dem Weg zum Rektorat der Medizinischen Universität Wien durch das Universitätsgelände begegnet man der österreichisch-jüdischen Geschichte. Hier befinden sich die legendäre Sigmund-Freud-Statue des jüdischen Bildhauers Oscar Nemon sowie die Namensmauer und das Mahnmal zum Gedenken an die von den Nationalsozialisten vertriebenen und ermordeten Wiener jüdischen Mediziner, gestaltet von der in Wien lebenden, israelischen Künstlerin Dvora Barzilai.
Mit großem Enthusiasmus zeigt Rektor Markus Müller auf einer Führung durch die Gänge des Verwaltungsgebäudes zu seinem Büro die großformatige Kreidezeichnung von Olga Prager, einer Künstlerin, die das Professorenkollegium der Medizinischen Fakultät 1908–1910 porträtiert hatte. Ganz abgesehen von dem Umstand, dass hier eine Frau ein ausschließlich männliches Kollegium darstellte, finden sich auf diesem Porträt eine ganze Reihe bedeutender jüdischer Mediziner, die entscheidend zur Forschung in der Humanmedizin beigetragen hatten, wie der Augenchirurg Isidor Schnabel, der Cholesterinforscher Julius Mauthner oder der Magen-Darm-Spezialist Leopold Oser.
Markus Müller berichtet von einer seiner ersten Taten nach seiner Bestellung zum Rektor der Meduni Wien im Jahr 2015: „Ich habe die Kunstwerke hier neu platziert. Es war mir vor allem wichtig, jenes Bild umzuhängen, das ein späteres Professorenkollegium zeigt. Es stammt aus dem Jahr 1936. Zahlreiche der Mediziner, die man darauf sieht, waren mit und für das nationalsozialistische Regime aktiv. Das Bild hängt jetzt in anderen Räumlichkeiten und wurde mit einem begleitenden Text versehen, der es kontextualisiert.“ Anstelle dieses Bildes hängt hier heute eine mehrteilige Arbeit von Markus Prachensky, und noch ein weiteres besonderes Gemälde hat einen ganz prominenten Platz in Müllers Büro: Das von einem Klimt-Schüler gestaltete Porträt zeigt den bedeutenden Anatom Emil Zuckerkandl (1849–1910), dessen Frau Berta als eine der führenden Journalistinnen und Salonièren in die österreichische Geschichte eingegangen ist.
Israelische Kontakte
Eine gute Aura in seinem täglichen beruflichen Arbeitsumfeld ist für Rektor Müller essenziell. Auch wenn er in den vergangenen Monaten ausgesprochen häufig unterwegs war. Neben seiner Tätigkeit als Leiter der Meduni Wien und als Präsident des Obersten Sanitätsrats ist der ohnedies nicht gerade unterbeschäftigte Mediziner seit dem Beginn der Coronakrise auch federführend im Covid-Beratergremium der Bundesregierung tätig.
In dieser Funktion reiste Markus Müller im März mit Bundeskanzler Kurz nach Israel, das er vor allem durch seine Zusammenarbeit mit der Tel Aviv University kennt. Hier ist er seit einigen Jahren im Board of Governors vertreten, einem Gremium, in dem er Seite an Seite mit dem Vorstandsvorsitzenden von JP Morgan Chase tätig ist. Auch mit Janet Yellen, Ehrendoktorin der Tel Aviv University, pflegt er eine freundschaftliche Beziehung.
In der Coronakrise hatte Müller bereits früh Kontakt mit den israelischen Gesundheitsbehörden aufgenommen, da Israel in der Gruppe der sogenannten „First Movers“ eine Vorreiterrolle in der Pandemiebekämpfung und in der Folge vor allem bei der Durchimpfung der Bevölkerung einnahm.
„Anfang März erhielt ich einen Anruf, mir den Donnerstag freizuhalten. Der Bundeskanzler wollte einen medizinischen Experten nach Israel mitnehmen, und die Wahl ist auf mich gefallen. So sind wir für einen Tag nach Israel geflogen, gemeinsam mit der dänischen Ministerpräsidentin Mette Fredriksen in der Maschine der dänischen Königin. Auf dem Flughafen Ben Gurion war es das einzige Flugzeug, das nach langer Zeit landen durfte. Unsere Reise fand unter strengsten Auflagen statt. Wir durften auf der Fahrt zu den Gesprächen nirgends aussteigen, ein Teil des King David Hotels wurde nur für diese Gespräche reserviert. Israel hatte zu diesem Zeitpunkt bereits enorme Fortschritte in Richtung Impfung erzielt, die Bevölkerung verfügte schon über den elektronischen grünen Pass.“
Österreich, Israel und Dänemark kamen überein, in die gemeinsame Entwicklung von effizienten Covid-Eindämmungsmaßnahmen zu investieren und gemeinsam Schritte zur erhöhten Sorgfalt zu entwickeln. Zu diesem Zeitpunkt war Israel bereits Impfweltmeister.
Auf die Frage, wie Österreich sich im Vergleich zu anderen Ländern in der Pandemiebekämpfung bewerten lässt, meint Müller, dass Österreich sehr viel gut bewältigt habe. Allerdings habe man die zweite Welle unterschätzt, vor allem wäre Österreich, wie viele andere Staaten, nicht gut auf die Pandemie vorbereitet gewesen.
Vor der Kurve bremsen
Asien habe effizient auf die Krise reagiert, da man bereits mehrmals mit derartigen Situationen konfrontiert gewesen sei. „In einer Pandemie muss man antizipativ, also vorausblickend agieren. Wenn ich erst reagieren kann, wenn die Intensivstationen voll sind, ist es zu spät. Wir sind erst auf die Bremse getreten, als wir merkten, dass es in der Kurve eng wird. Aber Bremsen muss man vor der Kurve. Die Österreicher haben immer den Eindruck, dass uns hier nichts passieren kann. Das ist keine gute Haltung, weder in einer Pandemie noch in einer anderen Bedrohung. Jede Familie muss sich Gedanken machen: Haben wir eine Lebensversicherung, was tun wir, wenn ein Gehalt wegfällt, etc. Grundsätzliche Fragen, was in einer Krise passiert, wurden in Österreich nie ernsthaft diskutiert. Ich hoffe sehr, dass diese Lehre ernst genommen wird. Mittlerweile bin ich mir aber nicht mehr sicher. Wir gehen viel zu schnell zur Tagesordnung über.“
Hier ortet Rektor Müller auch den großen Unterschied zu Israel. Israel sei durch die ständige Bedrohung gezwungenermaßen eine sehr resiliente Gesellschaft, dort gebe es reale Krisenpläne. „Covid war ein guter Lehrmeister dafür, wie ein Staat in einer Krise aufgestellt ist. Es ist ein bisschen fahrlässig, nicht vorbereitet zu sein. Auch die Aufsplitterung des Gesundheitsbereichs auf die Länder war nicht sehr hilfreich. Hier hat Österreich definitiv Handlungsbedarf“.
Seine Familie sei gut über die Krise gekommen, auch wenn er und seine Frau, die ebenfalls in der Medizin tätig ist, sehr gefordert waren. „Covid wird bleiben. Die Zyklen für Pandemien werden kürzer. Vor allem müssen wir auf Überraschungen gefasst sein. Wir hatten nach der Vogel- und Schweinegrippe mit weiteren Influenza-Mutationen gerechnet, aber nicht mit einem völlig neuen Virus. Das war eine neue Dimension, vor allem, dass auf der ganzen Welt kein Mensch immun dagegen war. Insofern grenzt es an ein Wunder, dass ein Bestandteil aus der Krebsforschung für die Corona-Impfung herangezogen werden konnte.“ Ob er an Wunder glaubt? Dazu sei er viel zu sehr Naturwissenschaftler. „Das ist eine sehr abstrakte Ebene, als Mediziner glaubt man nicht an Wunder, allerdings ist die ganze Erde ein Wunder. Es ist ein Wunder, dass es den Menschen gibt. In der Covid-Forschung gab es glücklicherweise bereits vorgefertigte Bauteile für die Impfung, eben aus der Krebsforschung durch Ugur Sahin und sein Team von Biontech. Das ist das Schöne an der Wissenschaft: Man weiß nie, woher die Rettung kommt. Aber dann ist es plötzlich logisch, woher sie kommt. Das ist auch das Faszinierende an der Medizin. Man könnte es fast als religiösen Aspekt bezeichnen, dass wir die Welt überhaupt verstehen können. Das ist ja keine Kleinigkeit. Das könnte auch ganz anders sein.“
Glaube als Anker
Religion ist Markus Müller wichtig. Sein Wissenschaftlerleben war ihm nicht in die Wiege gelegt worden. In Hermagor geboren, haben seine Großeltern, Betreiber eines Lichtspieltheaters, seine Schulbildung am Theresianum und das Studium an der Universität Wien finanziert. Über einen Schulfreund fand er Zugang zum Wiener Judentum und Aufnahme in einer jüdischen Familie. „Dort wurde ein Salon geführt. Der Humor hat mich an die Tante Jolesch erinnert. Das waren wichtige und unvergessliche Erfahrungen für mein Leben. Und meine Begegnungen mit Viktor Frankl! Ich durfte ihn als Arzt betreuen und habe mit ihm nächtelange Gespräche geführt.“
Die Weitsicht Frankls und sein positiver Blick auf das Leben haben Markus Müller beeindruckt. „Das Leben hat einen so hohen Stellenwert, das muss ernst genommen werden.“ Ehrfurcht und Respekt vor dem Leben sind sein Credo, das er auch an junge Menschen weitergibt. „Die Religion weist uns darauf hin. Sie gibt uns Orientierung, eine gewisse Wertehaltung. Und sie kann ein wichtiger Anker sein, vor allem in Krisenzeiten, wie wir sie jetzt erlebt haben. Damit und mit viel Humor ist das Leben vermutlich leichter zu meistern.“