Chemiker, Schriftsteller und „Schattensammler“
Carl Djerassi gelang 1951 als 27-jährigem Nachwuchs-Chemiker die erste Synthese eines oralen Verhütungsmittels, gemeinhin „die Pille“ genannt, und im selben Jahr die erste Synthese von Cortison auf pflanzlicher Basis – zwei bahnbrechende Leistungen, die ihm viele Auszeichnungen eintrugen, darunter 30 Ehrendoktorate. Seit den 1980er-Jahren lebt er sein zweites Leben als Schriftsteller und ist mit Romanen und Theaterstücken erfolgreich. Im Oktober 2013 erscheint zu seinem 90. Geburtstag eine weitere Autobiografie unter dem Titel Der Schattensammler. Die allerletzte Biografie, genau genommen seine vierte.
Wer hier einen ausgiebigen Hang zur Selbstdarstellung vermutet, wird gleich noch mit dem ersten Satz gewarnt: „Der Leser möge sich hüten.“ Liest man trotzdem weiter, erfährt man, dass Der Schattensammler nicht nur eine „egozentrische Selbstbeschreibung“, sondern auch eine Art „Autopsychoanalyse“ sei, die vor allem die Schatten seines Lebens in den Fokus rücke, die er früher nicht thematisiert habe. Er zitiert dazu immer wieder, mitunter seitenlang, aus seinen früheren Autobiografien und literarischen Werken, was die Lektüre oft etwas mühsam macht, jedoch zeigen soll, dass er während eines Großteils seines Lebens gewisse persönliche Fragen weder der Öffentlichkeit noch sich selbst beantwortet habe, aus Gründen, die ihm teilweise selbst unverständlich seien. Erst in seinen erfundenen Geschichten habe er begonnen, anfangs unbewusst, sich damit auseinanderzusetzen, quasi „unter dem Schutz der Anonymität, den die Literatur bietet“. Die literarischen Werke der letzten 20 Jahre seien daher auch als „ganz besonderes Tagebuch“ zu betrachten, aus dem man die Wahrheit über seine Person erfahren könne.
Liebe und Rache
Seine literarische Tätigkeit wurde durch eine Kränkung und ein Rachemotiv ausgelöst. Diane Middlebrook, Professorin für englische Literatur und seine große Liebe, verließ ihn wegen eines wesentlich jüngeren Literaten. Er wollte ihr daraufhin zeigen, dass er sich „auch in ihrem Revier tummeln“ könne, und es kam in den ersten Monaten nach der Trennung zu einer „wahren Explosion von Gedichten“ und Kurzgeschichten, auf die der Roman Middles folgte, in dem es darum geht, „das in Liebesdingen vermeintlich mangelnde Urteilsvermögen einer ansonsten höchst anspruchsvollen Frau zu demonstrieren“. Ein Jahr später kam es zur Versöhnung, sie beschlossen, zu heiraten und blieben 22 Jahre verheiratet, bis zu Dianes Tod. Vor dem Jawort musste er ihr allerdings versprechen, Middles niemals zu veröffentlichen, woran sich der „chemist“ (so nannte sie ihn immer, sogar im Bett) auch gehalten hat.
Ein anderes Beispiel ist die Religion, die früher so gut wie nie zur Sprache kam. Nach „50 Jahren absoluter Irreligiosität, genauer gesagt eines überzeugten atheistischen Säkularismus“, wurde durch den Wechsel von der Chemie zur Literatur sein „wachsendes jüdisches Bewusstsein“ geweckt. Im Nachhinein fiel ihm auf, dass in seinen ersten fünf Romanen alle männlichen Hauptpersonen Juden sind, obwohl das nicht beabsichtigt war. Das führte zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Judentum. Das Buch Vier Juden auf dem Parnass bezeichnet er als sein bestes und meint, „dass eine längst überfällige persönliche Katharsis der wahre Grund war, weshalb ich dieses Buch schrieb“. Darin führen Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und Arnold Schönberg ein fiktives Gespräch über jüdische Identität.
Zu seiner Geburtsstadt Wien hat der 1938 geflohene Djerassi ein ambivalentes Verhältnis. Seit einiger Zeit lebt er vier Monate im Jahr wieder hier, eine ganzheitliche Versöhnung hält er aber nicht für möglich, da die Narben der Vertreibung zu tief seien. Als er aber 2012 von der Universität Wien sein erstes österreichisches Ehrendoktorat erhielt, gab ihm das „in gewisser Hinsicht das Gefühl, nun an meiner wahren Alma Mater promoviert zu haben“. Mittlerweile ist er auch Ehrendoktor der Medizinischen Universität, der Universität für angewandte Kunst und der Sigmund Freud Privatuniversität.
Carl Djerassi
Der Schattensammler. Die allerletzte Autobiografie
Haymon Verlag, Innsbruck 2013
480 Seiten
EUR 24,90