Dafür muss kein Tier sterben: Israel, das Eldorado für Start-ups, spielt auch bei der Entwicklung von Food-Tech in der ersten Liga mit.
Von Hedi Schneid
Was macht ein Land, das zu wenig Fläche für eine extensive Landwirtschaft, so gut wie keine natürlichen Ressourcen und einen kleinen Binnenmarkt hat? Es steckt sein Geld nicht in die klassischen „Old Economy“-Pfeiler anderer großer Industrienationen wie die Stahl-, Chemie- oder Automobilindustrie, sondern investiert in Hirnschmalz. Israel ist das Musterbeispiel für diese Strategie und hat damit – trotz der schwierigen politischen Situation und den Spannungen mit den Nachbarländern – ein solides Wirtschaftswachstum und einen hohen Lebensstandard erzielt. Wenn man so will, hat Israel die globale Wirtschaftsentwicklung des 20. Jahrhunderts übersprungen und sich mit dem Fokus auf Hochtechnologie zu einem der innovationskräftigsten Länder weltweit entwickelt. Hightech stellt inzwischen gut ein Viertel der Industrieproduktion und ist für 80 Prozent der Exporte verantwortlich.
Die Zahlen sind rekordverdächtig: Mit einem Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung von knapp fünf Prozent des BIP belegt Israel den ersten Platz unter den OECD-Staaten. Mit 140 pro 10.000 Mitarbeitern hält das Land sogar weltweit den Spitzenplatz, was die Zahl an Wissenschaftlern und Technikern pro Kopf betrifft. Die hohen Ausgaben für Forschung und Entwicklung schlagen sich auch in der rasant steigenden Zahl an Patenten nieder.
Die wissenschaftsbasierte Wirtschaft hat, gepaart mit dem Pioniergeist, der die Staatsgründung überhaupt erst ermöglichte, Israel noch auf einem anderen Sektor in die Champions League aufsteigen lassen: Das Land ist ein Eldorado für Gründer. Mit rund 7000 Start-ups, die sich rund um Tel Aviv, Jerusalem, Haifa und Be’er Sheva angesiedelt haben, weist Israel mit nur rund neun Millionen Einwohnern die höchste Start-up-Dichte weltweit auf. „Silicon Wadi“, wie das „Silicon Valley“ des Nahen Ostens genannt wird, kann mit dem US-Vorbild locker mithalten. Die Gründer kommen oft aus dem Militär, wo sie Eigenschaften wie Ausdauer, Stresstoleranz, Risikobereitschaft und Entscheidungsfreude kultiviert haben, die sie in einem Start-up gut brauchen können. Anschubfinanzierungen erhalten sie sowohl von privaten Finanziers als auch vom Staat. Dazu kommen die niedrigen Unternehmenssteuern, die ausländische Konzerne als Partner der Mini-Firmen anlocken.
Züchtung aus Zellen
Hightech – das ist nicht mehr hauptsächlich Elektronik, IT und Software. Längst haben die hellen Köpfe das weite Feld der Biotechnologie erobert. Wer dabei aufgrund der Covid-Pandemie in erster Linie an Medikamente und Impfstoffe denkt, greift zu kurz. In Zukunft – und die ist gar nicht so weit weg – geht es weltweit nicht nur darum, Menschen zu schützen und zu heilen, sondern unter anderem auch darum, sie umweltschonend zu ernähren. Weil aber nicht alle Menschen Vegetarier oder Veganer werden wollen, soll ihr Burger aus dem Labor kommen.
Food-Tech, Cultured Meat oder, etwas prosaischer auf Deutsch, Laborfleisch: Für Israels lebendige Hightech-Szene war der Einstieg in dieses Gebiet ein logischer Schritt. Mit Hilfe der Israel Innovation Authority (IIA) und privaten Risikokapitalgesellschaften wie Jerusalem Venture Partners (JVP) haben die Start-ups in den letzten Jahren viele Millionen eingesammelt, was ihnen hilft, die Innovation voranzutreiben. Die Zahl der Firmen, die sich mit der Züchtung von Fleisch aus tierischen Zellen befassen, nimmt laufend zu.
Aleph Farms ist eine der bekanntesten und gilt als Pionier. Sie wurde 2017 in Kooperation mit dem Food-Tech-Inkubator „The Kitchen“ des Lebensmittelkonzerns Strauss Group und des Israel Institute of Technology (Technion) gegründet. Eine andere Firma ist Future Meat Technologies, zu deren Finanziers der deutsche Molkereiproduzent Müller zählt. Eine weitere heißt SuperMeat, sie ist auf die Entwicklung von Hühnerfleisch aus dem Reagenzglas spezialisiert.
JVP-Gründer und Vorsitzender Erel Margelit, einer der Architekten der Start-up-Szene, der schon die Cyberindustrie großmachte, glaubt, dass Israel auch bei Food-Tech ein globaler Player werden kann. Laut Margelit könnte Food-Tech der neue Wachstumsmotor für die israelische Wirtschaft werden. Er liegt offenbar richtig: Laut einer Studie, die von SVG Ventures-Thrive, einer weltweit führenden Plattform für Agrar- und Lebensmittelunternehmen, in Forbes veröffentlicht wurde, befanden sich 2020 zehn israelische Unternehmen unter den 50 weltweit führenden in den Bereichen Food- und Agro-Tech.
Preis als Problem
Wie entsteht Fleisch im Labor? Mittels Biopsie werden aus dem Muskelgewebe eines echten Rindes – oder Huhns – Stammzellen entnommen, sogenannte Myoblasten, die sich in einer Nährlösung teilen und vermehren. Das Tier bleibt am Leben. Im Bioreaktor bilden sich dünnlagige Hautschichten, die, übereinandergelegt, als „Faschiertes“ für Hamburger, Fleischbällchen und ähnliches verwendet werden können. Viel komplizierter ist die Herstellung von festem Muskelgewebe, wie es für ein Steak notwendig ist. Dafür müssen die Muskelzellen in ein Polymer-Gerüst eingebettet werden, das aber nicht essbar ist. Aleph Farms stellte im November 2020 den Prototyp eines Steaks vor. Von dem nur wenige Millimeter kleinen Winzling wäre man nicht satt geworden – zudem hätte das gute Stück, wenn es zu kaufen gewesen wäre, einige tausend Dollar gekostet.
Der Preis ist nicht das einzige Problem, das es zu bewältigen gilt, damit Fleisch aus der Retorte massentauglich wird. Der erste Hamburger, 2013 von der niederländischen Mosa Meat vorgestellt, hat übrigens 250.000 Dollar gekostet – gemessen an den Entwicklungskosten. Was nicht nur Tierschützer vom Verzehr abhalten dürfte, ist der Umstand, dass die Nährlösung bisher aus dem Blut von Kälberföten gewonnen wurde. Deshalb wird intensiv daran gearbeitet, das Serum aus Pflanzen oder Algen zu gewinnen. Andere notwendige Nährstoffe wie Vitamine und Proteine kommen bereits aus gentechnisch behandelten Mikroorganismen. Eine weitere Hürde: Dem Bioreaktor muss sehr viel Energie zugeführt werden. Kommt die nicht aus erneuerbaren Quellen, bekommt das Umweltschutz-Argument Risse.
Der Klimaschutz ist freilich eines der schlagkräftigsten Argumente für das Laborfleisch: Von 1961 bis 2011 hat sich der Fleischverbrauch weltweit fast vervierfacht, von 2020 bis 2050 soll er sich verdoppeln. Nahezu 30 Prozent der Landfläche der Erde werden laut UNO für Nutztierhaltung und Futtermittelanbau verwendet, Wälder müssen Weideflächen weichen. Massentierhaltung widerspricht nicht nur jeglichem Tierschutz, sie fördert die Ausbreitung von Seuchen und trägt zum CO2-Desaster bei. Pro Kilogramm Rindfleisch werden 13,3 Kilogramm CO2 freigesetzt. Die Klimabilanz von Laborfleisch ist günstiger, außerdem muss kein Tier – das oft mit Antibiotika vollgepumpt ist – sterben.
Der Weg zum schmackhaften Steak aus dem Labor ist noch weit. Der Berater A. T. Kearney schätzt jedoch, dass in 20 Jahren nur noch 40 Prozent des weltweit verzehrten Fleisches von Tieren kommen wird. Gerade für Israel ist noch etwas wichtig: Einige Rabbiner haben bereits erklärt, Laborfleisch als koscher einzustufen bzw. argumentieren, dass das im Bioreaktor gewonnene Produkt gar nicht als „fleischig“, sondern als „parwe“ (neutral) anzusehen ist.